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Freitag, 26. Juli 2019

Mein Elternhaus - Spielorte

Ein Mehrfamilienhaus besteht nicht nur aus Wohnungen und auch in meinem Elternhaus gab es gewisse Winkel, die insbesondere für uns Kinder sehr spannend waren. Ich habe zwar niemals den Dachboden von innen gesehen, aber schon vor dem Dachboden wirkte der Hausflur mit einem Mal enorm abenteuerlich und unheimlich. Es begann damit, dass es viel dunkler wurde, als auf den normalen Treppenabschnitten, weil es hier nämlich nur noch ein kleines, ovales Fenster gab, durch welches das Licht hereinfiel. Und auf dem Treppenabsatz vor dem Dachboden des Hinterhauses entdeckten wir sogar einmal eine Schatzkiste. Diese bestand zwar nur aus alten Lumpen und Kostümen, die vielleicht der Jugendkreis zum Theaterspielen benutzt hatte, aber für uns war ein trüber Regentag gerettet, an welchem wir uns im schummrigen Dämmerleuchten verkleideten, immer wieder einen kurzen Blick von oben, aus dem ovalen Dachfensterauge, auf unseren nassen Spielplatz werfend, und auf dem Absatz vor der Dachbodentür unsere Auftritte absolvierten, während die anderen zwei, die gerade nicht an der Reihe waren, von der Schatzkiste aus hochapplaudierten.

Wir trafen uns fast regelmäßig, selbst bei Regenwetter, draußen und verzogen uns, wenn es zu ungemütlich wurde, in die großzügigen Treppenaufgänge des Altbaus. Auch dort fiel uns immer etwas zum Spielen ein, aber wenn ich daran denke, was wir dabei oft für einen Lärm gemacht haben, wundere ich mich im nachhinein, dass sich kaum jemals jemand beschwert hat. Nur ab und an kam ein Erwachsener vorbei und ermahnte uns nachsichtig, nicht so laut zu sein, was wir natürlich nur allerhöchstens zehn Minuten lang durchhielten. Es gab im Hinterhaus einen kleineren Hausflur mit spiegelglatten Bodenfliesen, auf welchen wir herumschlitterten und Eiskunstlaufen spielten. Es gab aber auch einen riesigen Hausflur, in meiner Erinnerung erscheint er mir so groß wie ein Tanzsaal, was er bestimmt nicht war, der das Vorderhaus mit dem Hof verband. Trat man von der Straße aus in das Gebäude, gelangte man in einen ziemlich winzigen Flur, von welchem sofort die Treppen abgingen. Doch neben den Briefkästen befand sich eine Tür und wenn man diese öffnete, lag eine große Halle vor einem. Diese war so ausgedehnt, dass darin, so lange ich in diesem Haus lebte, immer irgendwelche Baustoffe, Bretter, Zäune u.ä. gelagert wurden, natürlich auch Fahrräder, und trotzdem blieb zum Spielen noch genug Platz. Auch auf diesen Fliesen konnte man schlittern, allerdings nicht so gut wie auf den anderen, weil sie ein eingekerbtes Muster hatten, während jene glatt waren. Hier hielten wir uns am meisten auf, weil wir hier am wenigsten störten. Von der Mitte des Flurs ging eine kleine Treppe zum zweiten Eingang der Küsterwohnung ab, der aber nicht benutzt wurde, so dass wir uns dort auf den Stufen niederließen und malten oder herumalberten.

In diesem großen Hausflur knutschte ich das erste Mal, nämlich mit meinem "Hauptspielfreund". Die Motivation dabei war eher, daß wir einfach mal austesten wollten, was die Erwachsenen da im Fernsehen immer treiben und wir zogen es auch durch. Es war total eklig und wir sahen hinterher aus wie die Schweine, weil wir uns im Baustaub zwischen den Baumaterialien gewälzt hatten, aber wir kamen uns total erwachsen vor. Dabei muß das noch vor der Einschulung gewesen sein.

Durch den zweiten Zugang zum Hof über die Hofeinfahrt eignete sich das Haus sehr gut zum Einkriegezeck spielen. Dabei rannten wir wie die Irren durch sämtliche Hausflure, ein Stück die Straße entlang, in die Hofeinfahrt hinein und von dort erneut in den Hausflur usw., immerfort im Kreis und immer bedacht, schneller als die anderen zu sein, bzw. es rechtzeitig mitzubekommen, wenn sie sich irgendwo versteckten, um einen abzufangen oder die Richtung wechselten. Da die Hausflure große, schwere Türen mit genauso schweren schmiedeeisernen Türklinken hatten, gegen die wir uns, als wir noch kleiner waren mit unserem ganzen Körper stemmen mussten, um sie öffnen zu können, schepperte und knallte es dabei nicht schlecht, wenn die Türen trotz Schließfederung hinter uns wieder in das Schloß fielen. Meist kam dann ziemlich schnell der Hausmeister herunter und drohte uns mit dem Zeigefinger. Einmal, ich war gerade wieder in der wildesten Verfolgungsjagd und wollte eben durch die Hausflurverbindungstür entkommen, stand er dahinter und ich rannte genau in seinen rundlichen und gut gepolsterten Bauch. Das war mir äußerst unangenehm, auf diese Art auf frischer Tat ertappt zu werden, und er schimpfte natürlich mit uns, grinste dabei aber verdächtig amüsiert.

Zwischen dem kleinen Vorgarten und dem Kindergartenspielplatz stand das Küsterhäuschen, in welchem in zwei kleinen Räumen die Gemeindeverwaltung ihren Sitz hatte, welche aus der Küsterin bestand, die regelmäßig dorthin zur Arbeit ging. Zum Eingang des Häuschens führten zwei steinerne Stufen, die in der Regel unser Treffpunkt waren, um uns zusammenzufinden, oder wo wir saßen, wenn der Spielplatz vom Kindergarten belegt war. Und während es auf dem Kindergartenplatz keinen einzigen Grashalm gab, existierte ein abgeschlossenes kleines Wiesenbiotop inmitten hoher Zäune, nämlich der Wäschegarten, der, wie der Name schon sagt, hauptsächlich dazu genutzt wurde, Wäsche aufzuhängen. Auch diese Wiese wurde von uns bald als Spielgebiet erobert, obwohl wir uns dort eigentlich nicht aufhalten sollten. So lange wir noch zu klein waren, um an die Drahtschlinge heranzukommen, welche die Tür am oberen Pfosten geschlossen hielt, suchten und gruben wir uns Löcher unter dem Zaun und krochen hindurch. M. hatte später sogar ein richtiges Indianerzelt, das er hier auf der Wiese aufschlug, welche ringsherum von Gebüsch umgeben und nicht leicht einsehbar war. Auf der Wiese spielten wir gerne mit den Wäschestangen, die normalerweise dazu gedacht waren, die Wäscheleinen zu halten, balancierten sie auf unseren Fingern oder simulierten japanische Stock- und Schwertkämpfe. Glücklicherweise hat nie jemand von uns so ein Teil auf den Kopf bekommen. Doch auch das Gebüsch barg viele Möglichkeiten. Zum Beispiel gruben wir dort nach Schätzen, nicht ohne an die Warnung unserer Eltern und der Lehrer vor verrosteten Granaten und Blindgängern zu denken, und fanden tatsächlich welche (also Schätze), nämlich alte Reichspfennige und ein totes Kaninchen, das man hier begraben hatte. Dieses ließen wir in Frieden ruhen, aber als wir einmal einen toten Vogel fanden, begruben wir ihn genau daneben.
Außerdem gab es ein kleines Stückchen Erde, welches die Eltern von M. mit Rosen und Erdbeerpflanzen bestückt hatten. Die Rosen blühten jedes Jahr wunderschön, aber die Erdbeerpflanzen trugen unerklärlicherweise für manche Erwachsene nie Erdbeeren, denn die hatten wir schon längst weggeputzt, bevor jemand anderes sie ernten konnte.

An den Wäschegarten schloß sich der Hof des Nachbarhauses an, welches ein gewöhnliches Wohnhaus war und nicht mehr zur Kirche gehörte. Der Hof war relativ klein, und an zwei Seiten von dem hohen Gebäude, an den anderen Seiten von alten Kastanien umschlossen, weshalb er immer sehr düster und dunkel wirkte. Aus diesem Haus stieß die vierte Mitspielerin zu unserer Truppe, nämlich K., die mit M. und mir in eine Klasse ging und in diesem Haus mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und dem verspielten Schäferhund Arko wohnte. Er hatte ein lustiges Schlappohr und man konnte mit ihm prima Verstecken spielen, indem man sich hinter einem Baum verbarg und er so lange suchte, bis er einen gefunden hatte, wobei er vor Freude hoch sprang und einen fast umwarf. Leider ging sie schon nach zwei oder drei Jahren mit ihren Eltern in den Westen. Danach habe ich nie mehr etwas von ihr gehört.

Der Kindergartenspielplatz bot wieder ganz andere abenteuerliche Vergnügungen. Der eine Teil davon war um zwei große Sandkästen herum bepflastert, der andere Teil bestand nur aus staubiger Erde. Der ganze Platz war auf der Längsseite, die an das Baugelände grenzte, von hohen Pappeln umstanden. Auf der anderen Seite wachte eine alte Platane vor dem Küsterhaus, das direkt die Grenze zum Hof bildete. In einem der Sandkästen befand sich ein Klettergerüst, welches ein Propellerflugzeug nachbildete und vorne an der Heckspitze, sogar einen echten kleinen Propeller besaß, den man mit der Hand herumwirbeln konnte und der dann einen in den Zähnen ziehenden, metallischen, gräßlichen Lärm machte. Entweder hingen wir uns von unten an die Propellerflügel ran oder aber, wer ganz mutig war, kletterte bis ganz nach oben auf die hervorstehende "Schnauze" des Flugzeugs und drehte als Flugzeugführer dort am Rad. Am Flugzeugschwanz dagegen waren zwei Schaukelhaken befestigt, die Schaukel dazu besaß aber leider nur M., dem ich die Möglichkeit zu Schaukeln so oft wie es ging abknöpfte, da ich es liebte. Wir schaukelten so wild und maßlos, dass die metallischen Haken schnell durchgescheuert waren und es einigermaßen gefährlich wurde, sich noch auf die Schaukel zu wagen. Wir mussten dann warten, bis M.'s Opa, der Hausmeister, neue Haken angebracht hatte und das Warten fiel unendlich schwer.

Der Flugzeugrumpf bestand aus einem schmalen Gang und zwei rechteckigen Flügeln, die wir gerne dazu benutzten, uns aus Decken, Brettern und was wir sonst noch für Baustoffe fanden, Wohnungen zu bauen. Zum Beispiel wurde eine Decke als Dach oben drüber gelegt, andere Decken wurden über die seitlichen Streben gehängt und ein kleineres Tuch vor den Eingang. Dann suchte man sich ein altes Brett, wir montierten dazu gerne die Bretter des schmalen Sitzes, bzw. Ganges ab, der die beiden Sandkästen voneinander trennte, und legte es quer über die unteren Streben. Schon hatte man eine Bank, auf der man sitzen konnte. Für unsere Bauaktivitäten schleppten wir jeden Tag Berge von alten Decken nach draußen und jeden Abend rissen wir unsere kunstvoll erbauten Hütten wieder ab. Bald erfanden wir eine neue Art zu Bauen, nämlich indem wir dazu die langen bunten Holztische und -bänke, an denen die Kinder im Sommer zu Mittag aßen, mißbrauchten. Wir schleppten sie zu zweit und zu dritt durch die Gegend, um sie kreuz und quer zu Wohnungsgrundrissen zu stapeln, und ließen uns in den erdachten "Zimmern" häuslich nieder.

Gleich am zweitbeliebtesten, nach dem Erschaffen luxuriöser Domizile, war das Buddeln, insbesondere mit dem Zusatz von Wasser. Wir buddelten um die Wette bis wir auf den Sandkastenboden stießen, in die so entstandenen tiefen Löcher füllten wir Wasser und stiegen schließlich mit den Füßen hinein. Oder aber, wir bauten kunstvoll angelegte Burganlagen mit schützenden Wassergräben rundherum, in welche das Wasser aus den geschickt eingegrabenen Gängen innerhalb der Burg floß, wenn man es am oberen Burgeingang hineingoß. Ging es an das Einpacken, gossen wir noch einmal ordentlich Wasser nach und sprangen mit beiden Beinen auf das Bauwerk rauf, so dass alle unterirdischen und oberirdischen Gänge in sich zusammenstürzten und nur noch eine einzige Eierpampe vorhanden war. Meist hatten wir am Ende eines Tages so viel Sand auch außerhalb des Sandkastens verstreut, dass es zum abendlichen Ritual wurde, nachdem die Buddelsachen in heimatlichen Gefilden verstaut waren, noch einmal mit einem Besen die Treppen hinunterzurennen, um den Sand dorthin zurück zu befördern, wo er hingehörte und gleichzeitig die letzten Züge des sommerlichen Spielabends zu genießen, der bald vom lästigen Zubettgehen unterbrochen werden würde.

Für meine Mutter war es teilweise recht schwierig, mich abends wieder nach Hause zu kriegen, denn wenn ich nicht wollte, weigerte ich mich und blieb einfach unten. Wenn die anderen Kinder inzwischen von ihren rigeroseren Eltern an Händen und Füßen und unter Aufbietung aller Kräfte in die Wohnung gezerrt worden waren, denn sie wollten natürlich ebenfalls lieber weiterspielen und gaben dafür trotzig als Grund an, dass ich ja auch viel länger unten bleiben dürfe, spielte ich alleine weiter. Ich buddelte so lange, bis ich in der Dunkelheit meine eigene Hand nicht mehr vor Augen sah. Erst dann packte ich meine sieben Sachen zusammen und tappte zurück ins Haus, wo meine Eltern in der Regel vor dem Fernseher hingen oder Mama sogar schon eingeschlafen war.
Weil ich stets irgendwann wieder zurück nach Daheim fand und meine Mutter sich den Stress einer abendlichen Erziehungstragödie ersparen wollte, blieb es mehr oder weniger dabei, dass ich, zumindest wenn keine Schule war, so lange draußen bleiben konnte, wie ich wollte, etwas, was die anderen Kinder nicht durften.

Und dann gab es da noch diesen staubigen Teil des Kindergartens. Er eignete sich gut zum Ballspielen, da viel Platz war und überall lagen Autoreifen herum, insbesondere doppelte LKW-Reifen, mit denen man herrlich Reiter und Pferd spielen konnte, wenn man sie aufrichtete - meist machten wir das zu zweit, weil sie ziemlich schwer waren -, und sich rittlings auf sie hinauf schwang. Dabei musste man aufpassen, dass der Reifen nicht von der Stelle rollte, was er schnell früher oder später machte, wenn man nicht genau sein Gewicht auf den Mittelpunkt verlagerte. Auch Bockspringen übte ich mit ihnen gerne. An einer Seite des Platzes lag ein gefällter und entästeter Baumstamm, auf dem man Balancieren oder ebenso nur sitzen konnte und in einer Ecke stand ein Holzauto in Form eines LKWs mit einem richtigen Lenkrad vorne und Sitzbänken hinten. Später, als es fast auseinanderfiel, wurde es entsorgt und an der gleichen Stelle ein kleiner Hügel aufgeschüttet, zu welchem Zweck ist mir bis heute unklar. Noch zu DDR-Zeiten spielten dort einmal die Toten Hosen in einem spontanen Geheimkonzert. Aber er eignete sich ganz gut, um im Winter mit dem Schlitten oder Gleitern hinunterzufahren, obwohl es dazu noch einen besseren Platz gab - schräg hinter der Kirche, auf dem Hof eines normalen Wohnblocks, hatte man die Höfe tiefer gelegt und der Übergang war ein recht imposanter Abhang, der im Winter von Kindern und Schlitten nur so wimmelte. Auch auf diesen Hof weiteten wir unsere Entdeckungstouren aus, ebenso wie auf einen Spielplatz, einige Straßen weiter, der mir ziemlich suspekt war. Das lag wohl daran, dass er sich zwar großflächig ausdehnte, eigentlich nicht nur ein normaler Spielplatz, aber irgendwie brach lag. Außer einem Sandkasten und ein paar Tischtennisplatten fand man darauf nicht viel, bis auf eine merkwürdige Anlage, die aus bogenförmig angeordneten Metallstangen bestand, welche kleine Löcher hatten. Heute würde ich sagen, dass es wohl eine alte Wasseranlage war, vielleicht eine Art Kinderplanschbecken, wo das Wasser aus den Stangen herausrieselte. Doch zu meiner Zeit blieb alles trocken.

Der Spielplatz lag auf der Strecke eines typischen und einprägsamen Weges meiner Kindheit. Diesen Weg gehe ich sogar heute noch manchmal in meinen Träumen. Er begann mit dem alten Konsum an der Ecke, in dem wir uns von unserem Taschengeld, Zitronendrops, Puffreis, Liebesperlen oder Eis holten, und führte an mehreren Querstraßen vorbei bis zu unserem Bäcker, von dem ich regelmäßig die Brötchen für das Wochenende auf Geheiß meiner Eltern besorgte. Und zwar sehr leckere Brötchen, solche, die ich heute die DDR-Brötchen nenne. Wenn man auf die andere Straßenseite des Weges schwenkte, gelangte man an einer Kreuzung auf die routinemäßige Einkaufstour meiner Mutter, auf die sie mich manchmal mitnahm. Gleich links der kleine Gemüsehändler, in dem es stets haufenweise strohig-grüne, kubanische Apfelsinen und Kohlköpfe gab, aber sonst kaum etwas, ein Stückchen weiter die Straße hinunter der Käseladen, in dem hunderte von Käse, in den Vitrinen ausgestellt, einen verführerisch würzigen Duft von sich gaben, der mir jedesmal das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, um die Ecke auf der größeren Hauptstraße der Fischladen, wo noch echte lebende Fische in den Bottichen herumschwammen, welche von den Verkäuferinnen mit Fischnetzen eingefangen und denen im Bruchteil einer Sekunde mit einem langen Messer der Garaus gemacht wurde, während sie weiterhin mit den Flossen zappelten, dann zurück an unserem Konsum vorüber, wo meine Mutter beim Einkauf kleine Marken sammelte, die sie zu Hause in ein kleines Heftchen einklebte, genauer gesagt meistens mich kleben ließ.

Fortsetzung folgt

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