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Donnerstag, 14. Juli 2022

Quälgeister der Klassik

Zur Zeit sind alle krank und liegen flach, also wirklich alle um mich herum, außer mir und meiner Mutter. Dabei habe ich seit Beginn der Erdbeersaison kamikazemäßig unzählige Kilos ungewaschener, gekaufter Erdbeeren verdrückt und damit viel Wasser gespart. Bei der ersten Erdbeere denke ich immer noch, ich sollte die abwaschen, wer weiß, was für Bakterien und Viren darauf hinterlassen wurden, aber ich bin dann stets zu gierig. Und es ist nichts, rein gar nichts, passiert.

Doch seit die Frischluftsaison eröffnet ist und Fenster und Türen offen stehen, bin ich überrascht und genervt davon, wie oft draußen die Feuerwehrsirenen zu hören sind. Ich habe ja nun um die dreißig Frischluftsaisons hier hinter mir, aber sowas hatte ich noch nie. Früher war es so, daß man sofort, wenn nur ein Tropfen Regen fiel, die Feuerwehr hörte, aber sonst eher selten. Darüber wunderte ich mich damals und mein Kumpel meinte, das liege daran, daß bei Regen mehr Unfälle passieren. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, daß ein Tropfen Regen schon reicht, daß sofort die Feuerwehr ausrücken muß. In diesem Jahr dagegen wundere ich mich jetzt von früh bis abends und denke immer, das kann doch gar nicht sein, daß ich schon wieder Sirenen höre. Ich habe abends mal mitgezählt und es waren in vier Stunden drei Einsätze mit Sirenen zu hören. Tagsüber habe ich nicht mitgezählt, aber ich schätze, der Schnitt ist so ähnlich. Beim Tanzen ist es mir zuerst aufgefallen, da man es sofort bewußt mitbekommt, wenn die Musik von Sirenen übertönt wird. Was machen die bloß alle? (Alleine als ich das schrieb, was aber mit Unterbrechungen eine halbe Stunde dauerte, habe ich dreimal Sirenen gehört. Und ich fand erst danach >>diesen Artikel, in dem steht, daß die Feuerwehreinsätze in Berlin tatsächlich seit Mai 2021 sprunghaft angestiegen sind - von 1280 in 2020 täglich auf 1430. Für mich klingt das bei dem, was ich höre, beinahe noch zuwenig, aber daß die Feuerwehr überlastet ist, das glaube ich gerne.)

Meine Mutter schwelgt gerade in neuem Musik-Glück, da sie schon seit Wochen neue Hörgeräte durchprobiert, bevor das im Winter vielleicht abermals nicht mehr möglich ist, und ist dabei auf ein spezielles TV-Zusatzgerät gestoßen, womit alles, vor allem auch Musik, viel brillanter wiedergegeben wird. Rein nur mit einem Hörgerät hat sie sich das Musikhören abgewöhnt, weil das wohl keine Freude ist. Sie bemängelt allerdings, daß im Fernsehen so wenig Klassik läuft und sie deshalb eher selten Gelegenheit hat, wieder Musik zu genießen. 

Mein Problem ist ja andersherum gelagert. Deezer ist nun seit Beginn des Krieges kaputt, d.h. spielt fast nur noch Klassik, und ich habe seitdem bestimmt tausende von Stücke, insbesondere Vivaldi-Produktionen geblockt, aber egal was ich tue, gehe ich das nächste Mal in den Flow, präsentiert er mir garantiert wieder Vivaldi. Dabei müßte doch inzwischen der dümmste Algorithmus wissen, daß ich Vivaldi nicht in meinem Stream möchte. Vivaldi ist irgendwie wie "Lambada" oder "Macarena" der Klassik. Man wird das Zeug einfach nicht los. Und Chopin ist fast genau so schlimm, aber mehr das "Killing me softly" der Klassik. Leider kann ich kein Genre blocken, d.h. Klassik an sich zu blocken geht nicht. Dafür habe ich jetzt als Künstler Vivaldi und Chopin geblockt, aber das bringt überhaupt nichts. Es sind ständig wieder neue Aufnahmen im Stream drin. So langsam grenzt das an Mobbing. Dabei wäre in Maßen gegen diese Musik gar nichts einzuwenden, aber eben nicht, wenn man 500.000 Interpretationen davon durchhören muß. Wenn man 500.000 Variationen von "Macarena" oder "Killing me softly" hören müßte, würde man auch wahnsinnig werden. 

Weil ich den Deezer-Stream vor allem in der Küche zum Tanzen zwischendurch und beim Freestyle nutze, geht da kaum noch was, bzw. nur mit klassischem Tanz, den ich aber gar nicht kann. Das endet dann häufig in Balanceübungen und ist nicht gerade sehr aufbauend. Aber erst, wenn es mich anödet, fange ich an, nach gespeicherten Musikdateien zu suchen. Es hat jedoch auch einen Vorteil, denn so kann ich nicht mehr so viel mit Freestyle prokrastinieren, wenn ich keine Lust habe, dauernd die gleichen Choreos zu üben. In diesem Punkt entspricht Tanzen ja so gar nicht meinem Naturell, da mich Routinen schnell langweilen (Widder-Mond) und ich es gerne abwechslungsreich mag. Natürlich könnte ich im Grunde einfach machen, was ich will, dauernd neue Sachen ausprobieren, neue Choreos bauen, frei herumhopsen - Tanzen ist schließlich nur der Oberbegriff für unendlich viele Variationen, Möglichkeiten und Stile sich zu bewegen und zu spielen, man kann sich locker auch ohne ständige Wiederholungen stundenlang damit beschäftigen. Freestyle ist toll, sich neue Choreos und Bewegungen auszudenken ist toll, nur wenn es dann an das richtige Üben geht, drücke ich mich gerne. Zwingt mich ja niemand. Am liebsten mit Freestyle oder der nächsten Choreo. Nur leider ist es so, daß das kontinuierliche Wiederholen von Bewegungsabfolgen beim Tanzen tatsächlich am meisten bringt. Irgendwie mies eingerichtet. Wenn ich mehr Choreos übe, merke ich stets, daß das sofort dem Freestyle einen positiven Kick gibt, wenn er zu eingefahren geworden ist, und dem Gehirn sowieso.

In den letzten Monaten hat es mir vor allem "Wild Dances" angetan, ein ukrainischer Song, für den ich schon Jahre zuvor viel "gesammelt" hatte. Wann, wenn nicht jetzt, dachte ich mir. Ich sammle eine ganze Menge zu allen möglichen Songs an, allerdings habe ich festgestellt, daß es nicht viel Sinn hat, mich mit Musik zu beschäftigen, die mich zwar kurzfristig reizt, die mir aber bei ständigen Wiederholungen auf den Keks geht, denn dann habe ich noch mehr Grund zum Prokrastinieren. So habe ich also eine riesige Sammlung an Ideen, aber wenn es darum geht, mich zu entscheiden, frage ich mich zuerst: Welchem Song möchte ich bis in alle Ewigkeit treu bleiben? Da bleiben dann schon nicht mehr so viele übrig. 

Wild Dances

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