ThingsGuide

Montag, 8. Juli 2024

Andersen als (bildender) Künstler

Hans Christian Andersen ist vor allem durch seine Märchen bekannt. Ich liebte diese als Kind mehr als alle anderen Märchen und besaß eine schöne Ausgabe vom Kinderbuchverlag mit Illustrationen, die weniger kindlich waren. Leider mochte ich sie so gern, daß ich das Buch sozusagen zerliebte und es auseinandergefallen ist. Ich besaß ebenfalls eine schöne Ausgabe der Brüder Grimm-Märchen mit Illustrationen von Werner Klemke, aber diese interessierten mich weniger und ich weiß auch nicht, wo das Buch abgeblieben ist. Spaßeshalber schaute ich mal nach, ob man diese Bücher antiquarisch noch findet, und auf Ebay wird man fündig. >>Hier findet man die Andersen-Ausgabe und >>dort die Grimm-Märchen. Ich sehe trotzdem davon ab, mir das Buch noch einmal zu kaufen, denn es enthält ja nicht mehr mein Original-Porträt von Prinzessin Elisa, welches ich praktischerweise und höchst inspiriert gleich vorne in das Buch malte mit dem schriftlich festgehaltenen, begeisterten Hochruf: "Hoch lebe Prinzessin Elisa!" So ein Original mit meiner eigenhändigen Illustration bekommt man heute nirgends mehr. Es war im Grunde unersetzlich. 

Weniger bekannt ist, daß Andersen Unmengen an höchst kunstvollen Scherenschnitten produzierte, und noch viel weniger, daß es von ihm auch Zeichnungen und Collagen gibt. Für knapp fünf Euro erstand ich wohl das einzige Buch, welches sich damit beschäftigt, nämlich "Andersen als bildender Künstler". (Im Buch fand ich zusätzlich noch einen französischsprachigen Comic.) Übrigens versuchte er sich in seinen ganz jungen Jahren erst als Sänger und Tänzer, aber ohne Erfolg. Andersen schreibt deshalb in seiner Autobiographie darüber nicht viel: "Da stand ich den ganzen Vormittag mit dem langen Stock und streckte die Beine; aber ungeachtet meines guten Willens meinte Dahlén (Solotänzer und Leiter der Tanzschule), daß ich es nicht weiter würde bringen können, als zum Figuranten. Einen Vorteil hatte ich jedoch erreicht: ich durfte des Abends hinter den Kulissen des Theaters erscheinen, ja sogar auf der hintersten Bank in der Loge der Figurantinnen sitzen; es kam mir vor, als hätte ich den Fuß schon auf dem Theater, aber auf der Bühne selbst war ich noch nie gewesen. Eines Abends gab man die Operette: die beiden kleinen Savoyarden; in der Marktszene konnte ein jeder, selbst die Maschinisten hinaufgehen, um die Bühne füllen zu helfen; das hörte ich, schminkte mich ein wenig und ging mit den anderen glückselig hinauf. Ich war in meiner gewöhnlichen Kleidung: dem Konfirmationsrock, der noch hielt, aber doch ungeachtet alles Bürstens und aller Reparaturen sehr ärmlich aussah, und dem großen Hut, der mir über das Angesicht herabfiel. Ich war mir dieser Mängel wohl bewußt und wollte sie verbergen, aber dadurch wurden meine Bewegungen noch eckiger; ich durfte mich nicht gerade halten, wenn die Weste ihre Kürze gegen meine lange magere Figur nicht allzu deutlich zeigen sollte. Ich hatte wohl das Gefühl, daß man sich über mich lustig machen könne; doch war ich in diesem Augenblick nur von dem Glück erfüllt, das erstemal vor dem Lampenbrette aufzutreten. Mein Herz schlug, ich trat auf - da kam einer der Sänger, der damals das große Wort führte und nun vergessen ist; er nahm mich bei der Hand und wünschte mir spottend Glück zu meinem Debüt. 'Darf ich Sie dem dänischen Volke vorstellen', sagte er und zog mich gegen die Lampen vor; man sollte über meine Person lachen, ich fühlte es; die Tränen traten mir in die Augen, ich riß mich los und verließ betrübt die Bühne. Doch bald darauf arrangierte Dahlén ein Ballett Armide, worin ich eine kleine Rolle bekam; ich war ein Dämon." (aus "Märchen meines Lebens" von Hans Christian Andersen - bezahlter Link)

Doch er trat nicht nur als Dämon auf, er hinterließ 70 Bleistiftzeichnungen, 250 Federzeichnungen, über 1000 Scherenschnitte, Collagen und Tintenkleckszeichnungen, eine Papierskulptur und kurz vor seinem Tode, aber nicht zuletzt, installierte er Collagen auf einen gewaltigen Wandschirm mit acht großen Wänden zu den Themen: Kindheit, Dänen, Dänemark, Schweden-Norwegen, Deutschland-Österreich, Frankreich, England und Orient. Dazu wurde ihm von verschiedenen Seiten mit Material geholfen: Sein Verleger schickte ihm Kupferstiche und englische Illustrierte, ein Hoffotograf spendete 150 Fotografien von berühmten dänischen Männern und Frauen, und andere verschafften ihm Bilder aus Deutschland und Ausgaben der 'Illustreret Tidende'. Der Wandschirm hatte seinen Platz im Schlafzimmer des Dichters, wo er ihn vom Bett aus betrachten konnte. Leider steht im Buch nicht, was für ein Klebemittel Andersen benutzte, aber sein Verbrauch dürfte damals ungleich höher gewesen sein als meiner. 

Nichts von alldem wurde zu seinen Lebzeiten jemals ausgestellt. Seine Werke wirken in heutiger Zeit ziemlich modern, aber gerade deshalb fehlte wohl in einer Zeit der "Illusionsmalerei" das Verständnis dafür. 

"Seine Bilder entstanden meist in einer impulsiven, selbstvergessenen Eingebung durch irgendein Motiv, und so besitzen sie eine Selbständigkeit und Frische, die an die Skizzen großer Meister erinnert. Sie sind dadurch weit interessanter als etwa die Zeichnungen Goethes, die sich, zwar Ausdruck einer viel grösseren theoretischen Einsicht und auch grösserer akademischer Fertigkeiten, dennoch nicht über das Niveau der üblichen kultivierten 'Freizeitkunst' erheben."

Er fertigte auch gerne Hefte mit Zeichnungen, Collagen und Reimen für Kinder von Familien, mit denen er Umgang pflegte. Zwei solcher Hefte wurden 1907 vom Andersen-Haus in Odense für 48 Kronen erworben. Dieser niedrige Preis zeigt, daß sie als reine Kuriosität angesehen wurden und ihnen keinerlei Wert beigemessen wurde. "Kein Wunder, dass er vor mehr als hundert Jahren wenig Aufhebens von dieser Seite seines Schaffens machte. Es war viel zu anstrengend, auch für die Anerkennung von Dingen zu kämpfen, die völlig über den Horizont seiner Zeitgenossen gingen. Die waren hinreichend verwirrt durch die Vielfältigkeit seiner Begabung. Und die Kritiker darüber erbost."(beide Zitate aus "Hans Christian Andersen als bildender Künstler" von Kjeld Heltoft - bezahlter Link)

Schade, daß das Buch nur eine Auswahl enthält und kein Gesamtwerk. Das wäre bei der Masse aber vermutlich zu viel verlangt. Ich habe das Gefühl, mich mit Andersen nicht nur märchentechnisch zu verstehen. 

Die erste verlinkte Zeichnung ist ziemlich verspielt und phantasievoll. Es sieht aus, als hätte er über eine vorhandene Zeichnung drüber gekritzelt. Überall sitzen Gesichter und die Strichmännchen erinnern an Keith Harding. Die zweite sehr reduzierte Zeichnung zeigt den Vesuv. Und in der dritten Tintenklecks-Zeichnung meine ich förmlich die Schneekönigin zu erkennen. In der darauf folgenden Collage beachte man die exakt gestreckten Ballettfüße!

Andersen1

Andersen2

Andersen3

Andersen4

Andersen5

Andersen6

Keine Kommentare

Kommentar veröffentlichen

Die Kommentare werden im Tresor gebunkert und bei Gefallen freigeschaltet. ,-)