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Freitag, 2. August 2024

Dynamiken eines Krieges

Nachfolgender Auszug stammt aus einer Sigmund Freud-Biographie, welche aber auch sehr detailliert und beeindruckend die Dynamiken zur Zeit des ersten Weltkrieges schildert:

"Franz Ferdinand hatte Pläne gehabt, die Doppelmonarchie zu reformieren, sie umzubauen zu den «Vereinigten Staaten von Groß-Österreich»; Kroatien, Bosnien, Dalmatien sollten zu einem eigenen Reichsteil werden. Das empörte die Serben, die ein südslawisches Königreich unter ihrer Führung gründen wollten. Das empörte die Ungarn, weil damit ihre Union mit Kroatien staatsrechtlich aufgelöst worden wäre. Das empörte alle Kreise bei Hof, die nicht aus ihrer Beschaulichkeit gerissen werden wollten...

...In jenen letzten Junitagen deutete in Wien nichts darauf hin, daß das Attentat von Sarajevo zu einer politischen Aktion gegen Serbien führen könnte. Die mit Waffen des militärischen Geheimdienstes ausgerüsteten Mörder, Mitglieder der Organisation «Mlada Bosna» (Junges Bosnien), waren sofort gefaßt worden: Nedeljko Cabrinovic, der die Bombe auf den Wagen geworfen hatte, durch die zwei österreichische Offiziere verletzt worden waren, und Gavrilo Princip, der Franz Ferdinand und Sophie erschoß, als sie auf dem Weg ins Krankhaus zu den Verletzten waren. Die Terroristen hatten, was man damals nicht genau wußte, wenig Rückhalt in der Bevölkerung, wenngleich das Datum des Attentats, der 525. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld, hochsymbolisch war. In Wien sorgte man sich darum, wie man den Thronfolger und seine ihm nur morganatisch angetraute Gattin ohne großes Aufsehen bestatten konnte. Selbst Freud fand etwas faul an der klammheimlichen Beerdigung «dritter Klasse» in einem Provinznest.  Ein paar Wochen mehr noch, so Stefan Zweig, und Name und Gestalt des Thronfolgers wären aus der Geschichte verschwunden gewesen. Wen ging das ewige Geplänkel mit diesen Slawen an, das im Grunde über ein paar Handelsverträge wegen serbischer Schweinetransporte entstanden war: «Weder Banken noch Geschäfte noch Privatleute änderten ihre Dispositionen». Man fuhr in die Sommerfrische,...

...Auch Ferenczi wollte im August nach London fahren. Er mußte seine Reise jedoch absagen; als «Landsturmpflichtiger» durfte er Ungarn nicht mehr verlassen. Die Politik hatte sich des Attentats von Sarajevo bemächtigt, eine Kette von Ereignissen geriet in Gang, die schließlich in den Großen Krieg führten. Auf diesen hatten im Grunde alle Staaten gewartet, am wenigsten vielleicht die Doppelmonarchie, die keine Hegemonieansprüche hatte, keine Territoriumszugewinne suchte, sondern seit Jahrzehnten nur um ihren Fortbestand kämpfte. So war man auf lokale Konflikte vorbereitet; schon 1912 hatte Freud fürchten müssen, daß seine Söhne in den Balkankrieg ziehen würden. Und man übersah in Wien, daß sich die Drohgebärden gegen Serbien mit schrecklichen Folgen verselbständigen sollten. Knapp vier Wochen nach dem Mord von Sarajewo, am 23. Juli, hatte die Regierung, mit der Rückendeckung Deutschlands, Serbien ein Ultimatum gesetzt, in dem die Bekämpfung der gegen Österreich-Ungarn agierenden Organisation gefordert, aber auch die serbische Souveränität in dieser Angelegenheit eingeschränkt wurde. Das war eine Provokation. Aber innerhalb der gesetzten 48 Stunden ging die serbische Regierung auf fast alles ein, verwahrte sich nur gegen eine Einschränkung der Souveränität des Landes und beschloß eine Teilmobilmachung. Österreich fand die Zugeständnisse «unzureichend» und ordnete ebenfalls die Teilmobilmachung an; am 28. Juli wurde der Krieg erklärt. Kaum jemand hatte bis dahin große Sympathien für die Serben, diesen «blutrünstigen» Haufen, gehegt, wie man glaubte, nun aber schlug die Stimmung um. Serbien erhielt Unterstützung von Rußland, das am 3o. Juli die Generalmobilmachung beschloß. Einen Tag später, am 1. August, erklärte Deutschland dem Zarenreich den Krieg. Am selben Tag erfüllte Frankreich als Verbündeter Rußlands seine Pflicht und verkündete seinerseits die Mobilmachung, im Wissen, daß Deutschland den Krieg im Westen beginnen würde. Großbritannien hatte sich bis dahin um Schlichtung und diplomatische Verhandlungen bemüht. Nach den deutschen Drohungen gegen Belgien gab es keinen Grund mehr zu zögern. Belgien war, so der Militärhistoriker Hew Strachan, ein noch stärkeres Symbol als Serbien. Am 3. August setzte Großbritannien den Deutschen ein Ultimatum bis Mitternacht. An diesem Tag gingen nach der prophetischen Äußerung des britischen Außenministers Sir Edward Grey in ganz Europa die Lichter aus, und wir «werden sie zu unseren Lebzeiten nicht mehr angehen sehen».

Der lange erwartete und von vielen ersehnte Schritt gegen Serbien wurde in Wien mit «großem Jubel und Demonstrationen» begrüßt, berichtete Alexander Freud an seinen Bruder. Die Stimmung wurde nur ein wenig dadurch gedrückt, daß jeder Freunde und Bekannte hatte, die einberufen wurden. Auch Sigmund Freud selbst erlag kurzfristig dem patriotischen Fieber: Er fühle sich zum ersten Mal seit dreißig Jahren als Österreicher, schrieb er Abraham schon am 26. Juli...

...Österreich hatte eigentlich nur einen Krieg um die Vorherrschaft auf dem Balkan im Sinn gehabt und wollte die Ansicht widerlegen, die Doppelmonarchie sei ein dem Untergang geweihtes Imperium. Doch die Ereignisse folgten derart dicht aufeinander, daß man in allen Staaten hinterherhinkte, als die Krise sich offenbarte. Europa war in Ferien, kaum ein führender Politiker erfaßte das Geschehen, obwohl man in den Jahren zuvor immer wieder vor dem Ausbruch eines Krieges gestanden hatte. In all der Zeit waren der Erhalt und das Zerbrechen von Allianzen wichtiger gewesen als die Wahrung des Friedens; der gegenseitige Argwohn hatte die wechselseitige Paranoia noch geschürt... 

...Bereits am 5. Juli war dem deutschen Kaiser beim Gabelfrühstück ein Schreiben des greisen Franz Joseph überbracht worden. Wilhelm II. trat unmißverständlich dafür ein, daß Wien agieren müsse und Deutschland hinter den Österreichern stehe, falls Rußland intervenieren sollte. Das war der sogenannte Blankoscheck, und Wien löste ihn ein...

...Seine neu entdeckte Liebe für Österreich-Ungarn hatte schon nach wenigen Wochen nachgelassen, seine «Libido für A-U vergärte ihm in Wut, nachdem an die in Serbien kämpfenden Truppen Befehl ergangen war, in die ursprünglichen Stellungen zurückzukehren, um sich für die Rußlandfront bereitzuhalten. Und sein Sohn Martin hatte sich als Freiwilliger gemeldet, wollte, so spottete er, die Gelegenheit nicht versäumen, ohne Glaubenswechsel über die russische Grenze zu gelangen; Juden war die Einreise ins Zarenreich nicht erlaubt. Freud war alles andere als glücklich über diese Entscheidung seines Ältesten, der bisher nur «Karrierebruchstücke», und diese zumeist mit väterlicher Hilfe, produziert hatte, dem es nach seiner Promotion zum Doktor der Rechte zu mühsam erschien, ein Jahr als unbezahlter Referendar und danach weitere sechs Jahre als Rechtsanwaltsassistent bei geringem Gehalt zu arbeiten. Um das durchzuhalten, brauchte man einen reichen und großzügigen Vater, rechtfertigte er sich und seine Träume vom Soldatspielen, die er nie ganz hatte ausleben können. Aufs erste Gefecht freute er sich wie auf eine spannende Hochtour. Ein realistischerer Mann hätte schon damals begreifen müssen, daß dieses Abenteuer nur in einer Katastrophe enden konnte. Die vorgeschriebenen Armeestiefel, die er ausgehändigt bekam, lösten sich bereits auf, als seine Kompanie bei der Eisenbahnverladung durch den Schnee zu marschieren hatte. Glücklicherweise hatte der Vater ihm Geld gegeben, so daß er sich hatte eigene anfertigen lassen können.

Freud war, trotz seiner patriotischen Wallungen für Deutschland, den «hohen Verbündeten», der Österreich nun raushauen mußte, keineswegs von jener Kriegsbegeisterung befallen, der die intellektuelle Elite wie in einem kollektiven Rausch erlag. Der Pazifist Stefan Zweig schwärmte von dem plötzlichen Enthusiasmus in Wien, von Fahnen, Bänder und Musik, von den jungen Rekruten, die im Triumph dahinmarschierten, mit ihren hellen, vor Freude und Stolz leuchtenden Gesichtern, diesen kleinen unbeachteten Menschen des Alltags, die man nun bejubelte und feierte. Er sah in diesem Aufbruch der Massen «etwas Großartiges, Hinreißendes und Verführerisches» und wollte auch später trotz allen Abscheus gegen den Krieg die Erinnerung an diese ersten Tage, an die allgemeine Verbrüderung und das scheinbare Zusammengehörigkeitsgefühl nicht missen. Ein besonders eifriger Missionar der Sache war Hugo von Hoffmannsthal, der zeitweise als Landsturmoffizier in Istrien war und propagandistische Gedichte veröffentlichte. Rilke schrieb seine Fünf Gesänge, seine Huldigung an den Kriegsgott. Thomas Mann feierte den Krieg als «Reinigung und Befreiung» : «Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte!» Im Grunde hatte die Literatur seit der Jahrhundertwende den Krieg erträumt als Rebellion gegen Rationalismus und Fortschrittsdenken, aus Überdruß an der Enge und Banalität des Lebens. Im Expressionismus der Vorkriegsjahre, nachlesbar in den Tagebüchern und Gedichten von Georg Heym, Franz Werfel und Albert Ehrenstein, phantasierte man von einem gewaltsamen Stoß gegen die verachtete Zivilisation. «Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack der Alltäglichkeit hinterläßt», schrieb Heym, «sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Der Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln." Die Kriegsbegeisterung gerade der Künstler und Intellektuellen war allerdings mehr als nur romantisch-vitalistischer Eskapismus, nicht bloß schiere Verblendung, man sehnte sich nach einem wirklichen Gemeinschaftserlebnis in einem als fragmentiert und beziehungslos empfundenen Leben. Der Krieg schien die Erlösung von Selbstbeobachtung und Selbstzweifel zu sein: Da «unrettbare Ich» war plötzlich, wie Stefan Zweig schrieb, «eingetan in eine Masse», es war «Volk, seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen». Der religiöse Ton war charakteristisch für die meisten Reden, die von der «heiligen Zeit» sprachen und von der «wunderbaren Kraft, die in uns alle strömte». Hermann Hesse, wegen seiner Kurzsichtigkeit vom Dienst an den Waffen zurückgewiesen, dichtete: «Alle sind dem Alltag jetzt entflogen/ Jeder ward ein Künstler, Held und Mann.» Richard Dehmel drängte es sogar noch mit fünfzig Jahren zu den Waffen: «Da alles ruht in Gottes Hand, wir bluten gern fürs Vaterland.» Und während Franz Marc und August Macke in diesem Krieg fielen, bemalte ihr Freund Paul Klee deutsche Flugzeuge mit Tarnfarben.

Auch in anderen Ländern wurde der Krieg zur Kulturmission. In einer Sitzung der Académie des Sciences Morales et Politiques deklarierte der Philosoph Henri Bergson den «engagierten Kampf gegen Deutschland» zum «Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei». Freuds Lieblingsschriftsteller Anatole France suchte einen versöhnlicheren Ton: Nach dem Sieg müßten die Franzosen die Deutschen wieder als Freunde aufnehmen. Der Siebzigjährige wurde daraufhin derart heftig attackiert, daß er seine Dienste in Uniform anbot. Selbst der notorische Pazifist Romain Rolland, das «Gewissen Europas», der wegen seines Buchs 'Au-dessus de la melée' von seinen ältesten Freunden angegriffen würde, verlor die Geduld mit den Deutschen: Waren sie nun die Enkel Goethes oder Attilas? Für einen anderen Lieblingsautor Freuds, Rudyard Kipling, war die Lage klar: «The Hun is at the Gate!» Eine Tonlage darunter erklärte Arthur Conan Doyle den Krieg zum Kampf für das «starke, tiefe Deutschland der Vergangenheit, das Deutschland der Musik und der Philosophie» — und «gegen das jetzige monströse Deutschland von Blut und Eisen».

Das starke, tiefe Deutschland protestierte aufs schärfste. Am 4. Oktober wurde das Manifest 'An die Kulturwelt!' veröffentlicht, mitverfaßt von Hermann Sudermann und dem Lustspielautor Ludwig Fulda und unterzeichnet von 93 prominenten Vertretern aus Wissenschaft und Geistesleben, darunter Max Planck, Wilhelm Röntgen und Paul Ehrlich, Ernst Haeckel, Max Reinhardt und Gerhart Hauptmann. Sie alle protestierten gegen die «Lügen» von der deutschen Kriegsschuld, von der Verletzung belgischer Neutralität, der Mißachtung des Völkerrechts und vom «sogenannten Militarismus»: «Glaubt uns, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig sind wie sein Herd und seine Scholle.» Das war eine Art Freibrief für die Reichsregierung, die Autorität von Wissenschaft und Kunst rechtfertigte eine Politik, die sie kaum verstand. Als daraufhin im Oktober 1914 der Physiologieprofessor und Mediziner Georg Friedrich Nicolai und Albert Einstein ihr pazifistisches Gegenmanifest 'Aufruf an die Europäer' verfaßten, fanden sie außer ihrem Co-Autor Wilhelm Förster, einem Überläufer aus den Reihen der 93, und dem Studenten Otto Bück keine Unterzeichner.

Victor Adler hatte bis zuletzt versucht, gegen den Krieg zu kämpfen. Als sich am 28. Juli in Brüssel die Zweite Internationale traf, berichtete er verzweifelt vom Ausnahmezustand in seinem Land. Noch einmal hieß es «Guerre à la Guerre». Aber drei Tage, nachdem der Sozialistenführer Jean Jaurès es gewagt hatte, eine deutsch-französische Annäherung zu fordern, wurde er in einem Pariser Café von einem Fanatiker erschossen. Und schließlich stimmten die österreichischen Sozialdemokraten genau wie die deutschen den Kriegskrediten zu und schlossen sich der «Burgfriedenspolitik» an. Es war ein Mythos, geschaffen und gehegt vor allem von denen, die es sich leisten konnten, der Mittelschicht, den Intellektuellen, daß die Massen, dies Volk, das plötzlich keine Parteien mehr kennen sollte, den Krieg herbeigesehnt hätten. Der «Geist von 1914» blieb weitgehend beschränkt auf die bürgerlich-akademischen Großstädter, auf die jungen Studenten und die Universitätsprofessoren sowie die notorischen literarischen und künstlerischen Mystiker, die, erlösungssüchtig, den Widersprüchen der Moderne entfliehen wollten. Auf dem Land war die Stimmung eher düster; allenfalls war man erleichtert, daß nach Wochen quälender Ungewißheit der Krieg schließlich zur schlimmen Gewißheit wurde: Lieber ein Ende mit Schrecken. Den Schrecken ohne Ende sah man nicht voraus...

...In Wien hatte sich schon unmittelbar nach Kriegsausbruch eine Art Militärdiktatur etabliert, die als Zivildiktatur praktiziert wurde, mit Begrenzungen der Reisemöglichkeiten und Zensur von Presse, Brief- und Telefonverkehr. Die Arbeitslosigkeit war dramatisch angestiegen wegen des zusammenbrechenden Exports, und schon nach wenigen Tagen waren Lebensmittel knapp geworden. Überhaupt hatte sich der Krieg ganz anders entwickelt als erwartet. Der überhastete Zug gegen Serbien scheiterte schon im Ansatz, noch schlimmer sah es in Galizien aus. Anfang September ging Lemberg verloren, im Oktober standen die Russen in den Karpaten und bedrohten Ungarn. Von August bis Dezember fielen fast 200 000 Soldaten, eine halbe Million war verwundet. In Berlin dachte man bereits daran, Österreich-Ungarn fallenzulassen; warum sollte sich Deutschland für «Kamerad Schnürschuh» opfern?...

...Dennoch, das Leben ging weiter, und manchmal konnte man den Krieg sogar vergessen. In Wien war sogar der Humor wiedererwacht, ein Uniform- und Modewarengeschäft warb für «Feldgrau, die große Mode von 1914»...

...Selbst Lou Andreas-Salomé kann ihn in jenen Tagen nicht trösten. Die ewig Lebensverliebte glaubt, daß kein persönliches Schicksal sie so hatte bluten lassen wie dieser Krieg, und hernach werde man niemals wieder froh sein. Freud antwortet ihr, er zweifle nicht daran, daß die Menschheit auch diesen Krieg überwinde, «aber ich weiß sicher, daß ich und meine Altersgenossen die Welt nicht mehr froh sehen werden». Das Traurigste daran sei, daß die Ereignisse genau den Vorstellungen der Psychoanalyse vom Menschen und seinem Benehmen entsprächen: Da «wir die gegenwärtig höchste Kultur nur mit einer enormen Heuchelei behaftet sehen, so taugen wir organisch nicht für diese Kultur. Wir haben abzutreten, und der oder das große Unbekannte hinter dem Schicksal wird ein solches Kulturexperiment einmal mit einer anderen Rasse wiederholen.» Die Wissenschaft sei nur scheintot, «aber die Humanität scheint wirklich tot zu sein»...

...Im Traum hatte er den Sohn in einer dick gefütterten Pelzweste gesehen: Martin sollte sich vor Krankheiten schützen, man mußte vor den Epidemien beinahe mehr Respekt haben als vor den Kugeln. Cholera, Fleckfieber und Typhus wüteten, und man konnte wenigstens versuchen, dagegen ein paar, wenngleich fast lächerlich hilflose, Maßnahmen zu ergreifen. Freud schickte seinem Sohn 200 Kronen, und Martin ließ sich tatsächlich jene Traum-Weste anfertigen, die ihn während des ganzen Krieges warm hielt und ihm erst in der Gefangenschaft in Italien gestohlen wurde...

...In Lublin wurde Martin vom einfachen Kadetten zum Fähnrich befördert. Als seine Oberen ihm gratulierten, verwickelten sie ihn in eine freundliche Unterhaltung über die Juden der Stadt: «Sie werden es nicht glauben, welche Preise diese Verbrecher für alles, was unsere Männer dort kaufen, fordern. Das Beste wäre, wenn alle unsere Kanoniere in die Judenviertel gingen, um ihnen die Köpfe einzuschlagen.» Das dämpfte das Glück des Eroberers. Es waren gerade die Juden gewesen, in Österreich wie in Deutschland, die den Krieg unterstützt und oft über das Maß der Pflicht hinaus ihre Kräfte dem Vaterland gewidmet hatten. Sie hofften, damit die antisemitische Hetze vom Juden als schlechten Soldaten zu widerlegen; sie hofften auf eine Zukunft ohne Parteien, ohne Glaubensgrenzen und rassistische Vorurteile. Ihr Enthusiasmus war auch geschürt worden durch die Propaganda, die geschickt die Abneigung gegen das zaristische Rußland nutzte, die Heimat der Pogrome und der Unterdrückung. Tatsächlich fand die Tapferkeit der jüdischen Soldaten sogar Anerkennung bei den Erzherzögen und den höheren Beamten der Armee; die Militärzensur unterdrückte bis 1918 antisemitische Artikel in den Zeitungen. (...) In Wahrheit hatte der Antisemitismus auch während des Kriegs keine Pause gemacht. In Deutschland wurde 1916 die berüchtigte «Judenzählung» durchgeführt, zum «Nachweis der beim Heere befindlichen Juden», mit der angeblich der Vorwurf der «Drückebergerei» entkräftet werden sollte. Ihr Patriotismus wurde bitter verhöhnt, tatsächlich wurde der Krieg zu einer besonderen Katastrophe für die Juden. Es kam zur größten Einwanderungswelle jüdischer Flüchtlinge aus dem Osten, bereits 1915 hatten 340 000 Galizien verlassen, fast die Hälfte davon fand Asyl in Wien. Die ohnehin bedrohliche Lebensmittel- und Heizmaterialknappheit verschlimmerte sich, nur die alte Hetze fand neue Nahrung...

...Selbst die klarsten Geister waren verwirrt, die Wissenschaft, so schreibt er traurig, hatte ihre «leidenschaftslose Unparteilichkeit verloren», ihre Diener hatten ihr die Waffen entnommen, um den Feind zu bekämpfen. Er meinte die Anthropologen und die Psychiater, die ihre Gegner für degeneriert und minderwertig erklärten; er dachte ganz gewiß auch an die Chemiker, Physiker und Ingenieure, die ihre Wissenschaften in den Dienst des Krieges gestellt hatten. Ende April 1915 hatten die Deutschen den Giftgaskrieg begonnen, dessen Initiator und Organisator der spätere Nobelpreisträger Fritz Haber war....

...Nachdem die «menschlichen Großindividuen», die Völker und Staaten, die moralischen Schranken fallengelassen hatten, nahmen sie dies zur «Anregung», sich des Drucks der Kultur zu entledigen und ihren mühsam gebändigten primitiven Trieben Befriedigung zu gönnen. Der Mensch ist selten im ganzen gut oder böse, das lehrte dieser Krieg. Das hatte die Psychoanalyse gelehrt, die immer wieder das Miteinander von Lieben und Hassen beobachtete; man hatte die Macht der Intelligenz überschätzt und ihre Abhängigkeit vorn Gefühlsleben übersehen. Warum auch in Friedenszeiten Haß und Verachtung durchbrachen, warum der einzelne alle sittlichen Erwerbungen auslöschte und, im Rausch der Masse, nur die primitivsten und rohesten seelischen Einstellungen übrigblieben, das konnte Freud nicht erklären, noch nicht...

(aus "Eine Wissenschaft des Träumens. Sigmund Freud und seine Zeit" von Annette Meyhöfer - bezahlter Link)

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