Da hat Stefan Zweig am Anfang des Buches wohl ein bißchen übertrieben oder ich habe etwas mißverstanden, denn anders als >>hier geschrieben, hat Marie Antoinette in ihrem Leben doch noch Bücher gelesen:
"Die neuen Gefängniswärter, obwohl ihr freundlich gesinnt, wagen kein Wort mehr mit dieser gefährlichen Frau zu sprechen, ebensowenig die Gendarmen. Die kleine Uhr ist fort, die mit ihrem dünnen Ticken die unendliche Zeit zerteilte, die Näharbeit ihr genommen, nichts hat man ihr gelassen als den kleinen Hund. Jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, erst in dieser völligen Verlassenheit, besinnt sich Marie Antoinette des Trostes, den ihre Mutter ihr so oft empfohlen: zum erstenmal in ihrem Leben verlangt sie Bücher und liest mit ihren matten, entzündeten Augen eines nach dem andern; nicht genug kann man ihr holen. Keine Romane will sie, keine Theaterstücke, nichts Heiteres, nichts Sentimentales, nichts von Liebe, es könnte zu sehr an vergangene Zeiten erinnern, nur ganz wilde Abenteuer, die Reisen des Kapitän Cook, Geschichten von Schiffbrüchigen und verwegenen Fahrten, Bücher, die packen und wegreißen, erregen und spannen, Bücher, über denen man die Zeit und die Welt vergißt. Erfundene, erträumte Gestalten sind die einzigen Gefährten ihrer Einsamkeit. Niemand kommt mehr, sie zu besuchen, tagelang hört sie nichts als die Glocken von Sainte-Chapelle nebenan und das Kreischen der Schlüssel im Schloß und dann wieder die Stille, die ewige Stille in dem niedern Raum, der eng ist und feucht und dunkel wie ein Sarg. Der Mangel an Bewegung, an Luft schwächt ihren Körper, schwere Blutungen machen sie müde. Als man sie endlich zu Gericht ruft, ist sie eine alte Frau mit weißen Haaren, die aus dieser langen Nacht unter das entwöhnte Licht des Himmels tritt."
(aus >>"Marie Antoinette - Bildnis eines mittleren Charakters" von Stefan Zweig - für Einkäufe über diesen Link erhalte ich eine kleine Vergütung)
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