ThingsGuide

Sonntag, 6. Mai 2018

Alte Überlieferungen

Jeden Tag, fünfmal die Woche, eile ich daran vorbei, dem in kyrillischen Buchstaben an die roten Backsteine geschmierten "Doswidanija!". Es ist das einzige Graffiti, welches ich kenne, das unter Glas konserviert wurde. Seinen Ursprung hat es in der ehemaligen Sowjetkommandantur, welche nach dem zweiten Weltkrieg ihren Sitz auf unserem Dienstgelände hatte. Manchmal achte ich kaum darauf und manchmal kommen mir jede Menge Gedanken und Fragen. Wie waren diese Russen? Wie haben sie sich in Berlin gefühlt? Hat es ihnen hier gefallen? Haben sie hier auch geliebt oder nur gehasst? Hatten sie Heimweh? Fühlten sie Abschiedsschmerz? Was haben sie erlebt?
Ich kenne den zweiten Weltkrieg und die Zeit danach nur aus den Erzählungen meiner Eltern, die beide in ihrer Kindheit noch den Krieg miterlebten. Und schon als Kind faszinierten mich ihre Geschichten, was insbesondere daran lag, dass Wörter wie "Weihnachtbäume", "Stalinorgeln", "Luftschutzbunker", "Schwarzmarkt" u.ä. für meine Ohren irgendwie poetisch klangen, wobei mir aber bereits damals klar gewesen ist, dass die Zeit wohl alles andere als poetisch war. Obwohl meine Mutter jünger ist, hat sie mehr zu erzählen als mein Vater, was daran liegt, dass an dem kleinen Spreewalddorf meines Vaters der Krieg fast spurlos vorbeigegangen ist. Allerdings nicht an meinem Großvater, der in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen ist und nie darüber gesprochen hat, sondern geschrieben. Mein Vater berichtete ab und zu, wie er gerade mit dem Fahrrad aus Cottbus herausgefahren war, als ein Luftangriff auf den dortigen Flughafen begann. Er erlebte diesen mit seinem Fahrrad in einem Straßengraben mit, neben ihn ein anderer Mann, der dort ebenfalls Schutz gesucht hatte. Außerdem musste er als Mitglied der Hitlerjugend Schützengräben für die Armee schippen.

Meine Mutter dagegen war bei den Bombenangriffen auf Berlin dabei. Von ihr hörte ich die Geschichte, wie sie und ihr kleinerer Bruder auf der Flucht ihre Mutter, meine Großmutter, verloren, und sie Tage später durch einen Zufall wiederfanden. Wie sie bei Fliegeralarm in die Luftschutzbunker zogen. Wie sie als Kinder in den ausgebombten Häusern herumkletterten und spielten, und mein Onkel, ihr Bruder, wagemutig von Berliner Brücken kopfüber in die Spree sprang, bis er eines Tages von meiner schockierten Großmutter erwischt und versohlt wurde. Dass es nach dem Krieg Brennesselspinat, Kohlrübeneintopf und Arme Ritter (angebratene Brotscheiben mit Zucker bestreut) gab und dass Schuhe notdürftig aus verschiedenen Überresten von Soldatenausrüstungen geschustert wurden. Wie gut, dass der Großvater, mein Urgroßvater, Schuhmacher war und deshalb dies für seine Enkelkinder in die Hand nahm. Überhaupt ist es auch bewundernswert, wie meine Urgroßeltern mit einem Alter von über 60 erst zu Fuß mit ihren Habseligkeiten aus Küstrin, ihrer Heimat, geflüchtet sind, nach dem Krieg zu Fuß wieder dorthin zurückgekehrt sind und als sie die gesamte Altstadt mitsamt ihres Hauses dem Erdboden gleichgemacht fanden, zu Fuß erneut nach Berlin gezogen sind. Heute sind die letzten Trümmer der Altstadt mit Gestrüpp überwuchert.
Und demnächst will mir meine Mutter von ihren Erlebnissen mit den Russen erzählen, womit ich wieder beim Anfang wäre. Doswidanjia! 

1 Kommentar:

  1. Treibgut - Di, 00:25
    Küstrin
    Schöne Bilder! Von dem Ort, muss ich gestehen, habe ich noch nie gehört. Hab' gerade mal in Wikipedia nachgelesen, weil ich nicht so recht glauben konnte, dass es hier in Deutschland eine Stadt gibt, die nach dem 2. WK nicht wieder aufgebaut wurde.
    antworten - löschen
    zuckerwattewolkenmond - Di, 00:27
    Sie legt jetzt auch nicht mehr in Deutschland, sondern in Polen, zumindest die Altstadt. ;o)
    antworten - bearbeiten - löschen https://weltentanz.twoday.net/stories/3054044/#3054728
    schneck06 - Di, 00:33
    alles aufschreiben...oder auch nicht. auf jeden fall merken. halber mann? im tierpark? viele grüße, schneck.
    antworten - löschen
    zuckerwattewolkenmond - Di, 19:50
    Ich seh im Tierpark immer eine ganze Menge Männer herumstreunen. ;o)

    AntwortenLöschen

Die Kommentare werden im Tresor gebunkert und bei Gefallen freigeschaltet. ,-)