Im Sommer 1945 wurde meine Mutter 11 Jahre alt und war
das älteste von drei Kindern. Während der Zeit des zweiten Weltkrieges und nach
seinem Ende musste meine Oma - ihre Mutter, die drei Kinder alleine über die
Runden bringen, denn der Vater war in den Krieg gezogen und bei den Schlachten
und der Einkesselung in Dünkirchen in Frankreich dabei. Dort geriet er 1944 in
alliierte Kriegsgefangenschaft.
Als die Bombenangriffe auf Berlin begannen, harrten meine Großmutter und ihre drei Kinder wie alle anderen im Luftschutzbunker, bzw. Keller unter ihrem Wohnhaus aus. Sobald die "Weihnachtsbäume" am Himmel erschienen, wussten sie, dass Bomben folgen würden. Die Männer, die im Luftschutzkeller waren, gingen in regelmäßigen Abständen nach draußen, um nachzuschauen, was los ist. Eines Tages kam einer wieder und erklärte, dass vor dem Haus ein abgeschossener Panzer steht und alle aus dem Keller heraus müssten.
Sie wohnten in einem alten Mehrfamilienhaus am Ostbahnhof mit einem für diese Häuser typischen riesigen Hausflur. Um nach draußen zu gelangen mussten sie durch diesen Hausflur hindurch, der voller gefallener russischer Soldaten war. Sie stiegen über die unzähligen Leichen und als sie vor dem Haus standen und meine Mutter sich umschaute, sah sie, dass die gesamte Vorderfront des Hauses fehlte. Wie ein gewaltiges Puppenhaus sah es aus, mit brennendem Dachstuhl. Sie hatten jedoch keine Zeit sich um das Feuer oder ihre Habseligkeiten zu kümmern, sondern mussten einen anderen Unterschlupf finden. Das einzige, was sie noch besaßen, war eine Tasche mit ihren Papieren, sowie ein Pfund Schmalz. Dieses Schmalz hatte meine Großmutter bei den Plünderungen des Osthafens ergattert, der gleich in der Nähe des Ostbahnhofs liegt. Mütter hatten dort unter Beschuß die riesigen Speicher geplündert, um etwas Eßbares zu finden.
Während der nachfolgenden Flucht durch die zerbombte Straße sahen sie überall gefallene russische Soldaten auf Treppen und in Hausfluren liegen. Sie wurden sogar selbst von Deutschen beschossen, die sich irgendwo auf den Dächern verschanzt hatten. Diese schossen auf ihre eigenen (!), aus den zerbombten Häusern flüchtenden Landsleute, Frauen und Kinder. Da meine Tante, das jüngste Kind, erst vier Jahre alt war, kümmerte sich meine Großmutter um sie, während meine Mutter, als Älteste mit dem mittleren Bruder zusammenblieb. Bei der Flucht mit ihrem Bruder durch die von Deutschen beschossene Straße fielen sie bei jedem Schritt auf die Knie und standen wieder auf, und zwar wegen der Druckwellen der Geschosse, die über sie hinwegflogen. Sie wurden von diesen regelrecht nach unten gedrückt und umgeworfen. Sie wollten in eines der Eckhäuser flüchten, welches noch stand, aber wurden getrennt und meine Mutter und ihr jüngerer Bruder suchten Zuflucht im Hausflur eines anderen Hauses. Dort wurden sie von jemandem in den dortigen Luftschutzkeller geholt, der sie beide auf die oberste Etage eines Hochbettes verfrachtete. Sie blieben eine Weile da, wollten aber irgendwann wieder weg, um ihre Mutter zu suchen. Die Leute aus dem Keller gaben ihnen zwei Äpfel mit und sie zogen los. Auf der Straße fragten sie jeden, den sie trafen nach den Leuten aus dem Eckhaus und jemand sagte ihnen, dass die alle nach Friedrichfelde hinaus geflüchtet wären. Also machten sie sich auf in Richtung Lichtenberg, das zu damaliger Zeit noch kaum oder gar nicht bebaut war, Stadtrand. Irgendwo auf der Straße lag ein totes Pferd und die Menschen strömten in Scharen hin, um sich Stücke vom Fleisch herauszuschneiden. Sie waren mehrere Tage unterwegs, klopften zwischendurch an Türen und erbettelten Essen oder einen Schlafplatz.
Auch meine Oma machte sich auf die Suche nach den Kindern, doch statt der Kinder fand sie meine Urgroßeltern, welche von Küstrin nach Berlin geflüchtet, von dort zurück nach Küstrin gegangen - und weil dort alles dem Erdboden gleichgemacht war (auch heute besteht die Altstadt nur noch aus Ruinen, die man teilweise unter dem wuchernden Gestrüpp kaum noch erkennen kann), erneut nach Berlin gingen. Alles zu Fuß und in betagtem Alter. Hier standen sie ratlos an irgendeiner Ecke und die Großmutter nahm sie mit. Meine Mutter und ihr Bruder hatten inzwischen die große Chaussee erreicht, die damals noch zwischen Feldern und Laubengärten entlangführte. Aus der Ferne erkannten sie einen Mann mit einem Koffer auf der Schulter, der ihnen entgegen kam. Der fragte sie, wo sie hin wollen und es stellte sich heraus, dass es ein Nachbar aus ihrem Haus war. Als sie sagten, dass sie ihre Mutter suchten, sagte er, er könne sie zu ihr hinführen, was er auch tat.
Meine Oma und ihr jüngstes Kind hatten sich mit anderen zusammen in die Schrebergärten am Rande der Stadt geflüchtet, wo viele Sommerlauben leer standen. Dort quartierten sie sich in eine winzige Laube ein und hierher hatte meine Großmutter meine Urgroßeltern gebracht. Der Raum war nicht größer als sechs Quadratmeter und hierher führte der Nachbar nun ebenfalls die Kinder. Beide waren unglaublich glücklich, ihre Mutter wiedergefunden zu haben und meine Mutter bezeichnet es heute als eine Fügung des Schicksals.
Alle zusammen lebten nun einige Zeit in der Sechs-Quadratmeter-Laube, wo sie aber wenigstens ein Dach über dem Kopf hatten. Ganz in der Nähe hatten die Russen einen Stützpunkt und meine Mutter erzählt, dass die Russen gerade zu den Kindern sehr nett waren. Es gab an dem Stützpunkt eine Gulaschkanone zur Verpflegung der Soldaten und wenn eines der Kinder mit einer Kanne dort hin ging, bekam es immer die Kanne bis oben hin voll mit gesalzenem Grießbrei oder was es sonst gerade zu essen gab. Allerdings fielen auch andere Dinge mit den Russen vor. Die Frauen hatten große Angst vor ihnen, insbesondere vor den "Mongolen", die als besonders grausam galten. Der allererste Russe, den meine Mutter sah, war solch ein Mongole und kam in den Luftschutzkeller, in welchem sie sich aufhielten. Er hielt eine winzige blitzende Pistole genau auf meine Großmutter gerichtet und im Keller wagte in diesem Augenblick niemand mehr zu atmen. Dann verschwand er aber und andere Russen kamen. Meine Mutter meint, dass den russischen Soldaten die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Ab und zu holten sie Frauen, um sie zu vergewaltigen, indem sie sagten: "Frau komm!" Manche der Frauen waren so clever, dass sie sich sofort an einen der Offiziere heranmachten. Dann waren sie "immun", weil andere sie nicht mehr anfassen durften.
Nach einiger Zeit in der Laube konnten sie in ein größeres Haus mit einem oberen Stockwerk umziehen. Dort hatten vorher die Russen gehaust, und zwar wie die Vandalen. Alle Federbetten waren aufgeschlitzt, die Federn lagen überall im ganzen Haus verteilt und in herumstehende Kannen war hineingeschissen worden. Teilweise fanden sie noch Silberlöffel und alles was sie irgendwie gebrauchen konnten, wurde eingesammelt. Vor dem Haus stand ein alter grüner Gartentisch und um diesen Tisch versammelten sich manchmal Russen, aßen salzigen Hering und tranken Wodka. Sie fragten erst gar nicht, sondern spazierten einfach in den Garten, schmissen den Hering auf den Tisch, hauten ihn in kleine Bissen und legten mit ihrem Gelage los. Die Kinder bekamen oftmals auch einige Bissen zugesteckt.
Später fand meine Großmutter eine Unterkunft in der Stadt, eine Kochstube in einem Haus, also eine größere Küche, in der man gleichzeitig wohnte. Ab jetzt hauste die ganze Familie hier. Meine Oma verdiente ihr Geld als Trümmerfrau und klopfte von früh bis abends Steine. Auch meine Mutter musste im Rahmen der Schule Steine klopfen. Dafür bekam sie Stempel in ein kleines Heftchen. Sie tranken Petersilienwasser, aßen Brennesselspinat und geröstete Brotscheiben mit Zucker.
Meine Oma war vor lauter Arbeit, Kummer und Sorgen nur noch ein Strich in der Landschaft und inzwischen war die Ruhr im Nachkriegs-Berlin ausgebrochen. Mein Urgroßvater erkrankte daran und meine Mutter erinnert sich noch, wie meine Großmutter ihn, der ebenfalls nur noch dünn wie ein Hering war, in einen kleinen Leiterwagen setzte und ihn so selbst mit der Hand in das Krankenhaus nach Lichtenberg zog. Dort verstarb er. Das Telegramm kam einige Tage später.
Endlich kam mein Großvater aus der Kriegsgefangenschaft. Er konnte sehr gut Sachen und Essen organisieren, so dass es eine große Erleichterung für die Familie war. Er ging oft früh los, hängte sich außen an einen der Züge, die auf das Land fuhren, wobei er nicht der einzige war - es hingen Trauben von Menschen an den Zügen, die sich irgendwo festhielten, und auf das Land fuhren -, und stahl dort z.B. Kartoffeln von den Feldern, was alle machten, oder klopfte bei den Bauern und bat um Essen. Die Bauern waren jedoch sehr knauserig und gaben kaum etwas. Manchmal kam er tagelang nicht mehr wieder. Außerdem war er sehr geschickt im Angeln und fing nicht nur kleine Fische, sondern riesige Hechte. Diese waren äußerst gefragt und wurden gegen alles mögliche eingetauscht. Auf diese Art kam meine Großmutter auch zu einer alten Singer-Nähmaschine, mit der sie Kleidung für die Kinder nähte. Sie fand irgendwo blau-karierte Bettwäsche und eine bestickte Trachtenweste, wie sie damals Mode war. Aus der Bettwäsche nähte sie ihrer Tochter einen Rock, welchen sie zu der bestickten Weste trug und für meine Mutter war es das Schönste, was sie bis dahin je besessen hatte.
Meine Urgroßmutter war inzwischen bei Verwandten in Wittenau in ihrer kleinen Wohnung aufgenommen worden und hat meinen Urgroßvater noch viele Jahre überlebt. Meine Großeltern konnten mit den Kindern bald in eine der Wohnungen über der Kochstube ziehen. Hier verfolgten sie die Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes, denn sie hatten nichts mehr von Onkel Walter gehört, dem Bruder meiner Großmutter, der zwar nur Stubenmaler war, aber sehr künstlerisch begabt und vor dem Krieg viele eigene Ölgemälde in seiner Wohnung zu hängen hatte. Dieser kehrte nie aus Stalingrad zurück, es kam jedoch auch nie eine Nachricht, dass er gefallen ist. Niemand weiß, wo er abblieb oder was mit ihm passierte. Das letzte, was sie von ihm hörten, war ein Brief, dem er die Bleistiftzeichnung eines Schlachtfeldes beigelegt hatte. Das Bild sagte mehr aus als tausend Worte, heißt es, doch auch von dem Bild weiß niemand mehr, wo es geblieben ist.
Laut Aussage meines Vaters existierte außerdem ein schriftlicher Bericht meines Großvaters väterlicherseits über seine Erlebnisse in russischer Kriegsgefangenschaft. Dieser Bericht scheint ebenfalls verschollen. Man könnte meinen, daß Menschen Dinge, die sie an unangenehme Ereignisse erinnern, besonders gerne 'verbummeln'.
Als die Bombenangriffe auf Berlin begannen, harrten meine Großmutter und ihre drei Kinder wie alle anderen im Luftschutzbunker, bzw. Keller unter ihrem Wohnhaus aus. Sobald die "Weihnachtsbäume" am Himmel erschienen, wussten sie, dass Bomben folgen würden. Die Männer, die im Luftschutzkeller waren, gingen in regelmäßigen Abständen nach draußen, um nachzuschauen, was los ist. Eines Tages kam einer wieder und erklärte, dass vor dem Haus ein abgeschossener Panzer steht und alle aus dem Keller heraus müssten.
Sie wohnten in einem alten Mehrfamilienhaus am Ostbahnhof mit einem für diese Häuser typischen riesigen Hausflur. Um nach draußen zu gelangen mussten sie durch diesen Hausflur hindurch, der voller gefallener russischer Soldaten war. Sie stiegen über die unzähligen Leichen und als sie vor dem Haus standen und meine Mutter sich umschaute, sah sie, dass die gesamte Vorderfront des Hauses fehlte. Wie ein gewaltiges Puppenhaus sah es aus, mit brennendem Dachstuhl. Sie hatten jedoch keine Zeit sich um das Feuer oder ihre Habseligkeiten zu kümmern, sondern mussten einen anderen Unterschlupf finden. Das einzige, was sie noch besaßen, war eine Tasche mit ihren Papieren, sowie ein Pfund Schmalz. Dieses Schmalz hatte meine Großmutter bei den Plünderungen des Osthafens ergattert, der gleich in der Nähe des Ostbahnhofs liegt. Mütter hatten dort unter Beschuß die riesigen Speicher geplündert, um etwas Eßbares zu finden.
Während der nachfolgenden Flucht durch die zerbombte Straße sahen sie überall gefallene russische Soldaten auf Treppen und in Hausfluren liegen. Sie wurden sogar selbst von Deutschen beschossen, die sich irgendwo auf den Dächern verschanzt hatten. Diese schossen auf ihre eigenen (!), aus den zerbombten Häusern flüchtenden Landsleute, Frauen und Kinder. Da meine Tante, das jüngste Kind, erst vier Jahre alt war, kümmerte sich meine Großmutter um sie, während meine Mutter, als Älteste mit dem mittleren Bruder zusammenblieb. Bei der Flucht mit ihrem Bruder durch die von Deutschen beschossene Straße fielen sie bei jedem Schritt auf die Knie und standen wieder auf, und zwar wegen der Druckwellen der Geschosse, die über sie hinwegflogen. Sie wurden von diesen regelrecht nach unten gedrückt und umgeworfen. Sie wollten in eines der Eckhäuser flüchten, welches noch stand, aber wurden getrennt und meine Mutter und ihr jüngerer Bruder suchten Zuflucht im Hausflur eines anderen Hauses. Dort wurden sie von jemandem in den dortigen Luftschutzkeller geholt, der sie beide auf die oberste Etage eines Hochbettes verfrachtete. Sie blieben eine Weile da, wollten aber irgendwann wieder weg, um ihre Mutter zu suchen. Die Leute aus dem Keller gaben ihnen zwei Äpfel mit und sie zogen los. Auf der Straße fragten sie jeden, den sie trafen nach den Leuten aus dem Eckhaus und jemand sagte ihnen, dass die alle nach Friedrichfelde hinaus geflüchtet wären. Also machten sie sich auf in Richtung Lichtenberg, das zu damaliger Zeit noch kaum oder gar nicht bebaut war, Stadtrand. Irgendwo auf der Straße lag ein totes Pferd und die Menschen strömten in Scharen hin, um sich Stücke vom Fleisch herauszuschneiden. Sie waren mehrere Tage unterwegs, klopften zwischendurch an Türen und erbettelten Essen oder einen Schlafplatz.
Auch meine Oma machte sich auf die Suche nach den Kindern, doch statt der Kinder fand sie meine Urgroßeltern, welche von Küstrin nach Berlin geflüchtet, von dort zurück nach Küstrin gegangen - und weil dort alles dem Erdboden gleichgemacht war (auch heute besteht die Altstadt nur noch aus Ruinen, die man teilweise unter dem wuchernden Gestrüpp kaum noch erkennen kann), erneut nach Berlin gingen. Alles zu Fuß und in betagtem Alter. Hier standen sie ratlos an irgendeiner Ecke und die Großmutter nahm sie mit. Meine Mutter und ihr Bruder hatten inzwischen die große Chaussee erreicht, die damals noch zwischen Feldern und Laubengärten entlangführte. Aus der Ferne erkannten sie einen Mann mit einem Koffer auf der Schulter, der ihnen entgegen kam. Der fragte sie, wo sie hin wollen und es stellte sich heraus, dass es ein Nachbar aus ihrem Haus war. Als sie sagten, dass sie ihre Mutter suchten, sagte er, er könne sie zu ihr hinführen, was er auch tat.
Meine Oma und ihr jüngstes Kind hatten sich mit anderen zusammen in die Schrebergärten am Rande der Stadt geflüchtet, wo viele Sommerlauben leer standen. Dort quartierten sie sich in eine winzige Laube ein und hierher hatte meine Großmutter meine Urgroßeltern gebracht. Der Raum war nicht größer als sechs Quadratmeter und hierher führte der Nachbar nun ebenfalls die Kinder. Beide waren unglaublich glücklich, ihre Mutter wiedergefunden zu haben und meine Mutter bezeichnet es heute als eine Fügung des Schicksals.
Alle zusammen lebten nun einige Zeit in der Sechs-Quadratmeter-Laube, wo sie aber wenigstens ein Dach über dem Kopf hatten. Ganz in der Nähe hatten die Russen einen Stützpunkt und meine Mutter erzählt, dass die Russen gerade zu den Kindern sehr nett waren. Es gab an dem Stützpunkt eine Gulaschkanone zur Verpflegung der Soldaten und wenn eines der Kinder mit einer Kanne dort hin ging, bekam es immer die Kanne bis oben hin voll mit gesalzenem Grießbrei oder was es sonst gerade zu essen gab. Allerdings fielen auch andere Dinge mit den Russen vor. Die Frauen hatten große Angst vor ihnen, insbesondere vor den "Mongolen", die als besonders grausam galten. Der allererste Russe, den meine Mutter sah, war solch ein Mongole und kam in den Luftschutzkeller, in welchem sie sich aufhielten. Er hielt eine winzige blitzende Pistole genau auf meine Großmutter gerichtet und im Keller wagte in diesem Augenblick niemand mehr zu atmen. Dann verschwand er aber und andere Russen kamen. Meine Mutter meint, dass den russischen Soldaten die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Ab und zu holten sie Frauen, um sie zu vergewaltigen, indem sie sagten: "Frau komm!" Manche der Frauen waren so clever, dass sie sich sofort an einen der Offiziere heranmachten. Dann waren sie "immun", weil andere sie nicht mehr anfassen durften.
Nach einiger Zeit in der Laube konnten sie in ein größeres Haus mit einem oberen Stockwerk umziehen. Dort hatten vorher die Russen gehaust, und zwar wie die Vandalen. Alle Federbetten waren aufgeschlitzt, die Federn lagen überall im ganzen Haus verteilt und in herumstehende Kannen war hineingeschissen worden. Teilweise fanden sie noch Silberlöffel und alles was sie irgendwie gebrauchen konnten, wurde eingesammelt. Vor dem Haus stand ein alter grüner Gartentisch und um diesen Tisch versammelten sich manchmal Russen, aßen salzigen Hering und tranken Wodka. Sie fragten erst gar nicht, sondern spazierten einfach in den Garten, schmissen den Hering auf den Tisch, hauten ihn in kleine Bissen und legten mit ihrem Gelage los. Die Kinder bekamen oftmals auch einige Bissen zugesteckt.
Später fand meine Großmutter eine Unterkunft in der Stadt, eine Kochstube in einem Haus, also eine größere Küche, in der man gleichzeitig wohnte. Ab jetzt hauste die ganze Familie hier. Meine Oma verdiente ihr Geld als Trümmerfrau und klopfte von früh bis abends Steine. Auch meine Mutter musste im Rahmen der Schule Steine klopfen. Dafür bekam sie Stempel in ein kleines Heftchen. Sie tranken Petersilienwasser, aßen Brennesselspinat und geröstete Brotscheiben mit Zucker.
Meine Oma war vor lauter Arbeit, Kummer und Sorgen nur noch ein Strich in der Landschaft und inzwischen war die Ruhr im Nachkriegs-Berlin ausgebrochen. Mein Urgroßvater erkrankte daran und meine Mutter erinnert sich noch, wie meine Großmutter ihn, der ebenfalls nur noch dünn wie ein Hering war, in einen kleinen Leiterwagen setzte und ihn so selbst mit der Hand in das Krankenhaus nach Lichtenberg zog. Dort verstarb er. Das Telegramm kam einige Tage später.
Endlich kam mein Großvater aus der Kriegsgefangenschaft. Er konnte sehr gut Sachen und Essen organisieren, so dass es eine große Erleichterung für die Familie war. Er ging oft früh los, hängte sich außen an einen der Züge, die auf das Land fuhren, wobei er nicht der einzige war - es hingen Trauben von Menschen an den Zügen, die sich irgendwo festhielten, und auf das Land fuhren -, und stahl dort z.B. Kartoffeln von den Feldern, was alle machten, oder klopfte bei den Bauern und bat um Essen. Die Bauern waren jedoch sehr knauserig und gaben kaum etwas. Manchmal kam er tagelang nicht mehr wieder. Außerdem war er sehr geschickt im Angeln und fing nicht nur kleine Fische, sondern riesige Hechte. Diese waren äußerst gefragt und wurden gegen alles mögliche eingetauscht. Auf diese Art kam meine Großmutter auch zu einer alten Singer-Nähmaschine, mit der sie Kleidung für die Kinder nähte. Sie fand irgendwo blau-karierte Bettwäsche und eine bestickte Trachtenweste, wie sie damals Mode war. Aus der Bettwäsche nähte sie ihrer Tochter einen Rock, welchen sie zu der bestickten Weste trug und für meine Mutter war es das Schönste, was sie bis dahin je besessen hatte.
Meine Urgroßmutter war inzwischen bei Verwandten in Wittenau in ihrer kleinen Wohnung aufgenommen worden und hat meinen Urgroßvater noch viele Jahre überlebt. Meine Großeltern konnten mit den Kindern bald in eine der Wohnungen über der Kochstube ziehen. Hier verfolgten sie die Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes, denn sie hatten nichts mehr von Onkel Walter gehört, dem Bruder meiner Großmutter, der zwar nur Stubenmaler war, aber sehr künstlerisch begabt und vor dem Krieg viele eigene Ölgemälde in seiner Wohnung zu hängen hatte. Dieser kehrte nie aus Stalingrad zurück, es kam jedoch auch nie eine Nachricht, dass er gefallen ist. Niemand weiß, wo er abblieb oder was mit ihm passierte. Das letzte, was sie von ihm hörten, war ein Brief, dem er die Bleistiftzeichnung eines Schlachtfeldes beigelegt hatte. Das Bild sagte mehr aus als tausend Worte, heißt es, doch auch von dem Bild weiß niemand mehr, wo es geblieben ist.
Laut Aussage meines Vaters existierte außerdem ein schriftlicher Bericht meines Großvaters väterlicherseits über seine Erlebnisse in russischer Kriegsgefangenschaft. Dieser Bericht scheint ebenfalls verschollen. Man könnte meinen, daß Menschen Dinge, die sie an unangenehme Ereignisse erinnern, besonders gerne 'verbummeln'.
Xchen - Fr, 21:27
AntwortenLöschenDanke, dass du das hier aufgeschrieben hast, ich bin sehr interessiert an Erzählungen von Zeitgenossen - ich bin sehr froh, heute zu leben, bin aber sicher, dass ich es auch in der Zeit geschafft hätte.
Und wegen den Rockhosen von Leni Rieffenstahl: Ich bin sicher, dass die Leute damals weniger empfindlich waren.
Was ich empfinde, wenn ich das lese, kann ich nicht beschreiben.
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zuckerwattewolkenmond - Fr, 22:03
Schön, dass es jemand gelesen hat.
Als meine Mutter mir die ganze Geschichte erzählt hat, standen mir teilweise die Tränen in den Augen, obwohl ich die einzelnen Teile auch früher schon immer mal von ihr gehört hatte, doch so im Zusammenhang ist es noch beeindruckender und "unwirklicher", in dem Sinne, dass diese Zeiten heute für uns so schwer vorstellbar sind.
antworten - bearbeiten - löschen https://weltentanz.twoday.net/stories/3108931/#3118306
Xchen - Fr, 22:46
Für mich ist das auch kaum nachvollziehbar, darum will ich es von Zeitzeugen hören.
Ich habe auch geweint. Ich habe mich bis vor ca. 1 Jahr überhaupt nicht mit WW2 befasst und habe mittlerweile einige Dokus auf DiscoveryHistory gesehen - und bin ziemlich entsetzt vor dem TV gesessen.
Gestern hatte ich keine Zeit zums Lesen, ich bin dauernd on the run ;-)
Vielleicht traut sich auch niemand zu antworten, weil es für viele Deutsche halt immer noch sehr heikel zu sein scheint. Ich als Schweizer habs ev. einfacher?
antworten - löschen https://weltentanz.twoday.net/stories/3108931/#3118389
zuckerwattewolkenmond - Fr, 23:18
Na ja, ich glaube, es liegt wohl mehr daran, dass nur selten lange Beiträge wirklich gelesen werden.....ist zumindest oft so.
antworten - bearbeiten - löschen https://weltentanz.twoday.net/stories/3108931/#3118465
Xchen - Fr, 23:35
Schade...