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Dienstag, 7. Juli 2020

Grandiose Primitivität

Erst letztens bin ich ja durch einen Traum darauf aufmerksam gemacht worden, daß ich durchaus mal versuchen könnte zum "Bolero" von Ravel zu tanzen. Vorher hatte ich so etwas nie in Erwägung gezogen, da ich mit den Jahren doch eine ziemliche Abneigung gegen dieses Musikstück entwickelt habe. Es ist für mich die "Macarena" der Klassik - beide Stücke kann ich nicht wirklich mit Genuß hören, sondern sie machen mich ziemlich ungeduldig. Nun habe ich diese Idee wahr gemacht und tatsächlich versucht den Bolero zu tanzen - mehr als einen Versuch kann man es nicht nennen, denn weder bin ich ein Profitänzer, noch ein guter Hobbytänzer, was mich aber zum Glück nicht mehr davon abhält. Ich tanze eher nach dem Motto: "Let's play the game, let's discover und get fit!" (frei nach Ido). Nach den ersten beiden Malen des Tanzens zum Bolero mußte ich feststellen, daß man durch die Bewegung dazu beginnt, ihn ganz anders zu hören. Das ist mir aber auch bereits bei den Zumbakursen aufgefallen, daß ich manchmal zu Songs, die ich gar nicht mag, durch das Tanzen einer Choreografie plötzlich einen ganz anderen Zugang bekomme und anders höre. Dies war also nicht wirklich überraschend. Nur was ich dann anders hörte, hat mich so neugierig gemacht, daß ich tatsächlich begann, über den Bolero zu recherchieren und dabei auf ziemlich interessante Artikel gestoßen bin.

Doch zuerst möchte ich meine ersten eigenen Eindrücke und Gedanken beim Tanzen schildern: Der Bolero trickst! Jawoll! Ich meine damit, die Melodie folgt gar nicht dem Rhythmus, wie man es erwarten würde, ist nicht eine Einheit mit dem Rhythmus, sondern lenkt eher von diesem ab und durchbricht ihn auf diese Weise. Mal schiebt sich dadurch der Rhythmus in den Vordergrund und dann wieder die Melodie - beim Tanzen gar nicht so einfach. Vor allem, da ja der Grundrhythmus immer bestehen bleibt.

Im Netz fand ich nun diesen Artikel >>http://www.tydecks.info/online/musik_paris1900_ravel_bolero.html, der auch den Link zu einer Aufführung von Ravel selbst enthält. Ich habe mir diese Aufführung angehört und mußte dabei feststellen, daß ich dabei immer noch ungeduldig wurde und den Bolero nicht hören möchte. Also anscheinend ist dieses "andere Hören" bei mir nur beim Tanzen aktiviert, überträgt sich aber nicht auf Situationen, in denen ich einfach nur lausche. Beim Tanzen dagegen macht er mich gar nicht ungeduldig, sondern sehr aufmerksam und versetzt irgendwie in so eine - ja, wie soll man das nennen, ohne daß es komisch klingt - rauschhafte Intensität, in welcher man aber seltsamerweise immer fokussierter wird. Wahrscheinlich ist dies dem stampfenden durchgehenden Rhythmus geschuldet und vielleicht sollte man das "primitiv" des Artikels hier mit  "schamanistisch" übersetzen, denn  im Grunde ist es eigentlich nichts anderes als ein begleiteter schamanischer Trommelrhythmus (nur mit dem Unterschied, daß sich die Lautstärke immer mehr steigert) und solch einen Rhythmus hört man sich eben nicht an, sondern man geht in ihn hinein, bzw. in die Trance, die er auslöst, vor allem durch Bewegung. Wenn man sich auf diese Trance gerade nicht einlassen will, wehrt man eher ab und findet solche Wiederholungen nervig.
Im Artikel wird gleich am Anfang das Stück "Le sacre du printemps" von Strawinski genannt und ich finde, beide Stücke sind total gegensätzlicher Natur. Während der Bolero sehr eingängig, gefällig und durch die ständigen Wiederholungen vorgeblich einfach ist, ist "Le sacre du printemps" doch manchmal geradezu schmerzhaft in den Ohren, überhaupt nicht gefällig, schon gar nicht ein "Ohrwurm", aber wirkt dafür alles andere als langweilig. Im Grunde erinnert mich "Le sacre du printemps" immer an Thriller-Filmmusik, die speziell durch Dissonanz an den Nerven der Zuhörer zerren will.

Unter folgendem Link kann man sich ausfühlich über den Aufbau des Bolero von Ravel informieren: >>https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/186533

Ravel sagt selbst über das Stück: "Ich habe nur ein Meisterwerk geschaffen, den „Boléro“; nur schade, daß keine Musik drinnen ist."

Ich habe mir übrigens keine Tanzaufführungen des Bolero angeschaut, weil ich mich davon nicht beeinflussen lassen möchte. Jedoch fand ich ein Video mit Bildern von der Tänzerin Ida Rubinstein, für welche der Bolero geschaffen wurde. Leider ist die Hintergrundmusik der Fotoshow der Bolero und auch beim Bilder anschauen macht mich diese Musik ungeduldig und schlecht gelaunt. Ich glaube, ich mag diesen Bolero einfach nicht hören, sondern ausschließlich tanzen.

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