ThingsGuide

Donnerstag, 20. Mai 2021

Gewohnheiten

Als ich vorhin an meiner Erdbeere Nachschub holte und in einer kleinen Schlange wartete, nahm ich plötzlich im Augenwinkel etwas nah hinter mir wahr und drehte mich erschrocken um. Es war jemand, der sich direkt hinter mir angestellt hatte, so wie früher, und dabei keinen Abstand einhielt. Als ich mich so erschrocken umschaute, grinste er nur verschämt, keine Ahnung, ob er dachte, ich habe Angst mich anzustecken, allerdings war dies gar nicht der Grund für meinen Schrecken. Sondern der tatsächliche Grund war, wie mir dann bewußt wurde, daß ich gar nicht mehr gewohnt bin, daß mir Menschen so nahe kommen - deshalb nahm ich es unbewußt wohl mehr als eine Art unsittliche Annäherung wahr. Früher war man ja immer mal wieder direkt unter Menschenmassen, ob nun Bus, Supermarkt usw., manchmal sogar mit leichtem Körperkontakt, aber nach über einem Jahr Abstand scheint es mir, verändern sich auch die eigenen Nähe-Distanzgrenzen - ob man dies nun möchte oder nicht. Doch ehrlich gesagt hätte ich gar nichts dagegen, wenn sich gerade in Warteschlangen, an Supermarktkassen usw. ein moderater Abstand dauerhaft etablieren würde. Müssen ja nicht gleich 1,50 m sein, aber wenn einem früher der Einkaufswagen gerne an den Po gerempelt wurde, war das auch nicht gerade toll. Das wäre dann mal ein positive Veränderung, die Corona gebracht hat. 

Es gibt aber auch andere positive Aspekte dieses ganzen Corona-Theaters, die man ebenfalls mal würdigen sollte. Zum einen ist jetzt der perfekte Zeitpunkt, um beim Medienkonsum Prioritäten zu setzen und konsequent bei Twitter, Facebook und Co. alle Zeitungen und sonstigen Medien zu entfolgen, die wegen ihrer unausgewogenen Berichterstattung auffallen und sich deshalb als nicht vertrauenswürdig entpuppen. Das hätte man früher nicht so schnell mitbekommen. Und auch bei Menschen erkennt man jetzt viel schneller gewisse Charakter- und Mentalitätsmerkmale, die man zwar früher vielleicht erahnt hat, aber dies nie so konkret erfahren hätte. Das hat wiederum den Vorteil, daß es viel schneller ersichtlich wird, wer einem in Lebenseinstellung und innerer Entwicklung nahe ist und wer nicht. Vielleicht ist das auch der Grund, daß man jetzt so viele Umgruppierungen sieht. 

Beim Tanzen würde ich ebenfalls gerne mal wieder meine Gewohnheiten durchbrechen, denn mir ist aufgefallen, nachdem ich jetzt monatelang keine Choreos mehr geübt habe, daß ich wohl das meiste verlernt habe. Das wurmt mich und eigentlich würde ich es gerne ändern, aber ich habe ja (man munkelt, das liegt am Widder-Mond) so eine Abneigung gegen Routine und Wiederholungen. Das heißt ich brauche sehr schwerwiegende Gründe, um mich dem ständigen Wiederholen einer Choreo zu unterwerfen. Diese wären zum Beispiel, daß ich die Möglichkeit habe, die Choreo in einem Kurs mit viel Platz zu tanzen - dann ist es in meinem ureigenen Interesse nicht mehr gucken und nachdenken zu müssen. Wenn solche schwerwiegenden Gründe allerdings wegfallen, ist es schwerer, mich zu solchen Routinen zu motivieren. Und zur Zeit fallen mir überhaupt keine schwerwiegenden Gründe ein, warum ich Choreos üben sollte. Nur leider langweilt mich das ständige Freestyle-Tanzen auch langsam. Man denkt ja, beim Freestyle hat man viel Abwechslung, weil halt keine Routine da ist - das stimmt aber nicht. Denn meist tanzt man immer mehr oder weniger dasselbe aus der Komfortzone und hat nicht so viele Erfolgserlebnisse, wie wenn man irgendetwas neues lernt. 

Anscheinend ist mein Gehirn unersättlich und hungert ständig nach neuen motorischen Herausforderungen. Wahrscheinlich ist Langeweile nichts anderes als ein knurrender Magen des Gehirns. Dieser Gedanke kam mir, als ich eine interessante Theorie im >>Mobility-Handbuch von Patrick Meinhart las, nämlich daß das Gehirn im Grunde nur für die Bewegung geschaffen wurde und ohne Bewegung unnötig ist: 

"Der Mensch ist das Lebewesen  mit dem größten Bewegungsspektrum überhaupt. Das hat auch etwas mit dem Gehirn zu tun. Wenn wir nicht so außerordentliche motorische Fähigkeiten hätten, sähe unser Gehirn  wohl anders aus - oder es wäre vielleicht gar nicht vorhanden. Dazu gibt es eine interessante These des Neurowissenschaftlers Daniel Wolpert. Wolpert ist Experte für Neurobiologie und beschäftigt sich mit Robotern , die menschliche Bewegungen nachahmen können. In einem Vortrag, der auf Youtube zu sehen ist, beschreibt er, warum Bewegung für ihn der Grund dafür ist, dass wir überhaupt ein Gehirn haben. Sein Beispiel ist ein primitives Seetier, die Seescheide. Seescheiden können, wenn sie noch im Larvenstadium, also sehr jung, sind, schwimmen und sich orientieren. Dazu haben sie ein Gehirn und ein einfaches Nervensystem. Die Larven suchen nach einem Platz auf einem Felsen, um sich niederzulassen. Sobald sie einen gefunden haben, setzen sie sich fest und bleiben dort bis ans Ende ihres Lebens. Dabei passiert etwas Erstaunliches: Ihr Gehirn verschwindet. Sie fressen es auf. Die Seescheide, sagt Daniel Wolpert, verdaut nach dem Sesshaftwerden als erstes ihr eigenes Nervensystem samt Gehirn, weil sie es offensichtlich nicht mehr braucht. Denn was Nerven und Gehirn vorher erledigt haben, nämlich Bewegung und die benötigte Orientierung, fallen weg...."

Inzwischen geht es mir sogar so, daß bei mir alleine die Vorstellung, irgendetwas länger am Schreibtisch zu machen, alles verkrampfen läßt und Unbehagen hervorruft. Wenn ich die Wahl habe, am Schreibtisch einem Projekt nachzugehen oder mich doch lieber "sinnlos" zu verbiegen, zu hopsen, im Entengang zu laufen oder über den Boden zu rollen, dann wähle ich lieber letzteres. Das liegt aber nicht daran, daß ich nicht mehr stillsitzen kann. In einer bequemen Yoga-Pose oder liegend kann ich durchaus länger unbeweglich verharren. Aber am Schreibtisch spüre ich das Unnatürliche dieser Haltung und weiß schon im Voraus, daß spätestens nach einer Stunde alles weh tut, aber viel unangenehmer als nach Sport oder Tanzen. Selbst wenn ich male, sitze ich jetzt lieber auf dem Bett oder Boden, was allerdings über mehrere Stunden hinweg auch krampfig werden kann. Es ist, als hätte sich bei mir plötzlich irgendeine Körperintelligenz angeknipst, vielleicht sogar durch das Tanzen, die mich instinktiv Bewegung suchen läßt. Und ich frage mich, wie ich es früher überhaupt durchgehalten habe, neun Stunden am Tag am Schreibtisch zu sitzen. Ist mir heute unbegreiflich, bzw. nur so zu begreifen, daß ich meinen Körper und seine Signale wahrscheinlich gar nicht gespürt habe. 

Zum Abendessen hatte ich mir heute mal einen Döner bestellt und die Wahl zwischen 'normal' und 'big'. Da ich viel Hunger hatte, war ich schon versucht, 'big' zu bestellen, beschloß aber, daß 'normal' reicht. Schließlich wollte ich dazu noch Rotkrautsalat und die gekauften Erdbeeren verzehren. Doch mit dem Dürüm-Döner, der dann bei mir ankam, hätte man jemandem erschlagen können. Ich habe zwei Teller für das Teil gebraucht und war schon nach einem Teller satt. Gott sei Dank hatte ich nicht 'big' bestellt. Wer weiß, ob der überhaupt durch meine Tür gepaßt hätte! Diese Restaurantportionen bin ich eindeutig auch nicht mehr gewöhnt. 

8 Kommentare:

  1. "aber wenn einem früher der Einkaufswagen gerne an den Po gerempelt wurde, war das auch nicht gerade toll."
    (musste gerade sehr grinsen... find ich auch)

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Findet vermutlich jeder - selbst die, die mit ihrem Einkaufswagen so ungeduldig sind, oder...?

      Löschen
  2. na klar... aber so lange kein direkter Körper-/Rempelkontakt vorkommt, bleiben die meisten gleichgültig, ähnlich wie (früher) in der S-Bahn oder U-Bahn, wo man in Kauf nahm, dass so dicht gestanden werden muss, dass wirklich keiner je umfallen könnte. Wahrscheinlich passt man sich auch bald wieder an und ignoriert den nahen Nachbarn, als stünde er gar nicht da.

    AntwortenLöschen
  3. Sorry für das Off, ich bin ständig auf der Suche nach deutschsprachigen Blogs, kannst du mir welche empfehlen? Ich lese nur dich und Nadine. Misanthropinwiderwillen hat aufgehört. Danke im Voraus.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Da ich nicht weiß, was dich speziell an Blogs anzieht, was genau du suchst, ist das nicht so einfach. Jeder sucht gerade bei Blogs etwas anderes, ob nun Themen, eine spezielle Mischung von Themen und auch die Schreibe muß passen, damit man "hängenbleibt". Ich selbst lese gar nicht so viele Blogs, außer die, die hier ab und zu kommentieren. Aber du könntest dich mal auf https://www.bloggerei.de/ umschauen. Sind alles deutschsprachige Blogs in Sparten unterteilt.

      Löschen
  4. Darf ich hier mal jemand Kommentierenden ansprechen?
    Würde gern hobelevanc einladen, mal bei mir reinzuschauen.
    Darf ich doch?
    Wir sind ja alle irgendwie vernetzt ...

    Habe mehrere Blogs und schreibe derzeit meistens nur in meinen zwei Schreibblogs.
    Darf ich die hier verlinken, Zucker?
    Dann kann hobelevanc gucken, ob sie bei mir lesen mag.
    Wir haben was gemeinsam ... den Beruf (den ich mal hatte) ...

    Einen lieben Gruß
    Und mach was Schönes aus Deinem WE!
    Ulrike

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Natürlich darfst du! Und dir ebenfalls ein schönes Wochenende!

      Löschen

Die Kommentare werden im Tresor gebunkert und bei Gefallen freigeschaltet. ,-)