"Auch ist der Schwung der Fantasie vom Verlangen nach dem beflügelt, was wir nicht haben können, noch nicht durch ein vollkommenes Erfassen der Wirklichkeit eingeengt, wenn es sich um solche Begegnungen handelt, bei denen denn auch die Reize der Vorübergehenden im allgemeinen im direkten Verhältnis zu der Schnelligkeit ihres Entschwindens stehen. Wenn es dunkelt und der Wagen fährt rasch, gibt es in Land und Stadt keinen weiblichen Torso, verstümmelt wie ein antikes Marmorbild durch unser rasches Vorüberfahren und die ihn im Nu verschlingende Dämmerung, der nicht an jedem Kreuzweg im Feld oder aus der Tiefe eines kleinen Ladens Pfeile der Schönheit in unser Herz entsendet. Jener Schönheit um derentwillen man manchmal versucht ist sich zu fragen, ob sie in dieser Welt überhaupt etwas anderes ist als das Komplement, das einer fragmentarisch geschauten flüchtig Vorübereilenden durch unsere von unerfüllter Sehnsucht überreizte Fantasie jeweils hinzugesetzt wird. Hätte ich aussteigen und mit dem Mädchen sprechen können, das unseren Weg kreuzte, so hätte mir vielleicht eine kleine Unschönheit ihrer Haut, die ich vom Wagen aus nicht hatte sehen können, alle Illusionen geraubt und dann wäre tatsächlich jedes Bemühen in ihr Leben einzudringen, plötzlich vereitelt gewesen. Denn die Schönheit besteht in einer Folge von Hypothesen, welche durch die Hässlichkeit so stark verengt werden, dass damit der schon sichtbar gewordene Weg ins Unbekannte versperrt wird. Vielleicht hätten mir ein einziges Wort, das die Jugendliche gesprochen, ein Lächeln von ihr, das Kennwort im Schlüssel zur Entzifferung des Ausdrucks in ihrem Gesicht oder ihrer Bewegung gegeben, und diese wären damit vielleicht auf der Stelle alltäglich geworden. Es mag sein, denn ich bin niemals im Leben so begehrenswerten Frauen begegnet wie an den Tagen, da ich mich in Gesellschaft irgendeiner gewichtigen Persönlichkeit befand, die ich trotz aller Vorwände, welche ich ersann, nicht verlassen konnte. Ein paar Jahre nach diesem ersten Sommer in Balbec machte ich in Paris eine Wagenfahrt mit einem Freunde meines Vaters und als ich eine Frau bemerkte, die mit eiligen Schritten durch die Dunkelheit ging, dachte ich, wie sinnlos es doch sei, aus bloßen Schicklichkeitsgründen meinen Teil am Glück in dem einzigen Leben, das uns zweifellos beschieden war, einfach daran zu geben, und ohne ein Wort der Entschuldigung abspringend, machte ich mich auf die Suche nach der Unbekannten, verlor sie an der Kreuzung zweier Straßen, fand sie in einer dritten wieder und stand endlich völlig außer Atem vor der alten Frau Berdurand (?), der ich überall aus dem Wege ging und die freudig überrascht in die Worte ausbrach: "Oh wie liebenswürdig von Ihnen, dass Sie so gelaufen sind nur um mir guten Tag zu sagen!" "
(aus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust)
Hallo Tänzerin,
AntwortenLöschenhätte ich nicht die große Flut der Briefe meiner Ahnen gefunden, würde ich wohl erneut zu Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" greifen. Was für eine gewichtige und schöne Sprache!
Ich bin auf dem besten Wege, die verlorene Zeit wiederzufinden, da sie sich mir von Brief zu Brief erneut zu einem faszinierenden Mosaik im Rahmen ihres Zeitgeistes darstellt. Nicht durch historische Studien mir unbekannter Autoren, sondern durch authentisches Mitlesen der schriftlichen Äußerungen der in jener Zeit lebenden Menschen, die mir meine Lebensgrundlage geschaffen haben.
Nichts - außer Tagebücher - kann wohl das Lebensgefühl einer Zeit so konkret darstellen, wie es Briefe tun. Während andere momentan von bestimmten Büchern schwärmen, tu ich dies von meinen Ahnenbriefen. Was fand ich vorhin? Oha ... ich hielt einen Brief meines Großvaters an seinen Sohn zum 14. Geburtstag in der Hand - von 1943! Diesen Großvater kennen zu lernen, war mir nie vergönnt, denn er schied schon ein Jahr nach dem Schreiben dieses Briefes aus dem Leben. Freiwillig ...
Was mich bei solchen Briefen immer am meisten berührt, ist das Wissen um die Zukunft des Schreibenden. Das gelingt halt nur im Rückblick - nach der klugen Erkenntnis: Leben kann man nur vorwärts, zum Verstehen muss man rückwärts schauen.
Dabei hat es der Inhalt meiner derzeitigen Studien hier und da sprachlich auch durchaus in sich. Da gab es Vorfahren, denen man posthum doch ein beachtenswertes Schreibtalent bescheinigen würde.
Wie sprachlich primitiv äußerten sich dagegen Autoren von alten Mädchenjahrbüchern, die mit grob erhobenem Zeigefinger - eingekleidet in fast propagandistisch anmutende Histörchen - die weibliche Jugend auf einen guten Lebenspfad zu bringen versuchten. Wundert es mich noch, warum ich diese Bücher (60er-Jahre) wohl kaum gelesen habe? Nichts darin kommt mir bekannt vor. Und heute verschlinge ich sie geradezu wegen ihrer kuriosen Inhalte! Na, dann waren sie ja doch noch zu etwas gut. Aber bestimmt nicht dazu, das Essen bei meinen Gastgebern ohne Kommentar zu mir zu nehmen, obwohl ich es kaum herunterbekomme. Stimmt da vielleicht mit der Kommunikation etwas nicht? Niemand würde heute seinem Kind solche Regeln vermitteln: „Mögt ihr aber etwas wirklich nicht, dann schluckt es, ohne mit der Wimper zu zucken, verstanden?“
Doch ein Blog gestalten? Gäbe es nicht auch an solchen Inhalten interessierte Leser?
Die von Dir zitierte Stelle aus dem Proust ist ein wunderbarer Ausschnitt zum Schwelgen in der Schönheit unserer Sprache ... danke für Deine Mühe! Tippst Du das Wort für Wort ab oder bedienst Du Dich neuester technischer Möglichkeiten der Sprache-zu-Text-Umsetzung?
Und noch etwas … solche literarischen Perlen wimmeln nicht von eigenartigen Klicklauten und *innen-Sternchen. Wie ich das genieße! Wäre doch auch mal ein Blogthema für Dich … oder?
Einen herzlichen Gruß durch die freundlichen Pfade des Netzes,
Ulrike
Noch etwas ... ich empfinde die Proustschen Äußerungen nicht als Verirrungen, sondern als Ausdruckspfade, die in tiefste Tiefen des seelischen Empfindens eintauchen, um uns Lesern das Empfundene bestmöglich zu veranschaulichen. Man bedenke, wie viele Menschen er damit berührt hat, wäre er sonst so bekannt geworden?
AntwortenLöschenUlrike
Hallo Ulrike,
Löschendas mit der Verirrung war auch nur explizit auf die Geschichte gemünzt, in der sich jemand für etwas, bzw. jemanden Schönheit vorgaukelt, den er flüchtig im Vorbeifahren sah, und als er die Person "erhascht" hat, feststellen muß, daß es die alte Frau ist, der er ständig aus dem Weg gegangen ist. Und das ist ja nun eine Verirrung, eine recht amüsante dazu.
Allerdings bin ich froh, daß ich das Buch höre und nicht lese, denn beim Hören ist die Betonung schon vorgegeben. Beim Lesen würde ich mich vermutlich mehrfach in den Schachtelsätzen verirren, bevor mir die richtige Betonung klar ist. Das habe ich besonders beim Korrigieren bemerkt. Denn ich habe den Text tatsächlich von einer App "aufschreiben" lassen, die jedoch ohne Punkt und Komma schreibt. Und da mir der Text nicht gedruckt vorliegt, muß ich dann quasi nach Gehör und geltenden Rechtschreibregeln punktieren, bin aber nicht sicher, ob das in allem so dem Original entspricht. Auch bei den französischen Namen weiß ich nicht, ob ich die richtig schreibe.
Und was das *innen-Theater betrifft - das finde ich tatsächlich grauenhaft, allerdings habe ich das bisher nicht zum Blogthema gemacht, bzw. nur nebenbei, weil ich das generell so absurd finde, daß ich das gar nicht für voll nehmen kann.
Dein Kommentar hat mich auch wieder an einen alten Brief aus meiner Familie erinnert - es handelt sich um den Brief eines Kindes (deshalb ist er so gut leserlich) aus der Zeit der russischen Besatzung nach dem Krieg:
https://flic.kr/p/p3RuPv
Hallo I.K.,
AntwortenLöschengeht es Dir auch so, dass Dich solche Briefe (vor allem, wenn sie aus der eigenen Familie stammen) sehr berühren? Auf mich üben diese Briefe einen enormen Sog aus, denn ich empfinde es fast so, als säße ich mit dem Angehörigen, der in der Regel nicht mehr lebt, auf einem Sofa und er würde mir sehr hautnah von seinen Erlebissen erzählen. So verwandelt sich der damalige Adressat, an den der Brief gerichtet war, in mich, die ich nun die Gedanken und Gefühle des Schreibers mitempfinde.
Übrigens ist meine Mutter, aus deren Nachlass ich diese Briefe "geschenkt" bekam, heute Morgen mit 91 Jahren im Heim friedlich nicht mehr aufgewacht. Klingt eigenartig, war aber so.
Sie wollte immer, dass ich diese Briefe eines Tages lese. Es tut mir gut, weil ich so manche unserer Auseinandersetzungen besser einordnen kann. Ich habe meinen inneren Frieden mit ihr geschlossen. Alles ist gut so ...
Liebe Grüße und ein frohes Pfingstfest!
Ulrike
P.S.: Ich habe heute Deine norwegische Bilderserie entdeckt und festgestellt, dass wir schon viele Plätze in meiner Seelenheimat gemeinsam betreten haben (Torghatten, Nordkapp, Hammerfest, Molde, Lillehammer, Geiranger, Trollstigen, Tromsø ...) - 2013 war ich vom 1. bis zum 27.9. in Norwegen. Es war eine von vielen Reisen, die wir zu allen Jahreszeiten dorthin gemacht haben. Wie ich sah, hast Du nicht das beste Wetter angetroffen, hat es Dir trotzdem gefallen?
Mein herzliches Beileid wegen Deiner Mutter!
LöschenJa, mich berühren solche alten Briefe auch immer sehr, ganz besonders, wenn sie von meinen Vorfahren stammen. Wir haben da viel "Material" in der Familie. Sowohl aus dem Krieg und Nachkriegszeiten, als teilweise bis zum 18. Jahrhundert zurück - allerdings nur väterlicherseits. Die Familie meiner Mutter ist ausgebombt worden, weshalb da alle Fotos und Dokumente vernichtet wurden. Aus dem, was meine Mutter rekonstruieren konnte, und den Aufzeichnungen meines Vaters, habe ich mal vor einigen Jahren eine Ahnentafel gemacht und auch alle Briefe für spezielle Angaben durchforstet. Da fanden sich außerdem die Aufzeichnungen meines Opas über die sowjetische Kriegsgefangenschaft, sein Wehrdienstausweis, das Tagebuch meines Urgroßvaters und vieles mehr. Einer meiner Vorfahren um 1700 war Totengräber und da gibt es zu seinem Lebensende hin eine Original-Urkunde "Auf Befehl seiner Majestät des Königs" für ein allgemeines Ehrenzeichen. Es ist irgendwie so, als würden diese vergangenen Leben lebendig werden.
Ich mag das Wetter eigentlich, wenn es stürmisch, rauh und regnerisch ist, nur zu kalt darf es nicht werden. Da wir während der Mitternachtssonne in Norwegen waren, also im Juni, fand ich es im Grunde perfekt - ein bißchen Regen oder Wind stört mich dann nicht. Und es hat mir sehr gefallen - besonders an der Atlantikstraße. Das ist genau die Mischung Landschaft, in der ich mich zu Hause fühle. Aber vielleicht liegt das auch an meinen Wikinger-Genen in der DNA, das heißt in Norwegen wandle ich mehr oder weniger ebenfalls auf den Spuren meiner Ahnen. ;-)
Wünsche Dir ebenfalls (trotzdem) ein schönes Pfingstfest!
Danke Dir fürs Beileid! Es ist alles gut, wie es ist. Sie wollte nichts mehr. So wünsche ich es mir auch für den Zeitpunkt, wenn ich nicht mehr mag. Sie hatte ein schweres Leben und darf jetzt selig sein.
AntwortenLöschenGruß, Ulrike