"Christian liebte dicke Bücher. Mit 500 Seiten begannen die wirklichen Romane. Mit 500 Seiten begann der Ozean, drunter war Bachpaddeln. Vergeblich schüttelte Meno den Kopf und wies darauf hin, daß in einer kurzen Geschichte Tschechows mehr Welt, mehr an Leben und Kunst stecken konnte als in manchem bloß dickleibigen Wälzer. Aber Christian griff nach den Blauwalen, wie er die großen epischen Romane Tolstois, Dostojewkis, Thomas Manns, Musils und Doderers nannte, er liebte Thomas Wolfe, aus dessen Büchern Schiffssirenen, Musik von den Südstaatendampfern, die Pfiffe der amerikanischen Kontinentalzüge klangen. Er las, daß Eugene Gant (also Wolfe selber, dachte er) in zehn Jahren zwanzigtausend Bücher gelesen hatte (was Christian schier unvorstellbar schien), ein wahrer Buchstabensaufaus also."
Ich glaube, das ist so ein Jugendding. Bei mir war das genauso, je dicker Bücher, desto besser. Man hat ja auch noch jede Menge Zeit totzuschlagen. Doch irgendwie müssen die Bücher mit zunehmendem Alter dünner werden, denn es gibt nicht mehr so viel Lebenszeit zu verschwenden. Deshalb tut es mir ein bißchen leid, zu diesem fast tausendseitigem Buch gegriffen zu haben, aber alleine die Kombination von DDR-Geschichte und Dresden fand ich reizvoll. Und wenn ich noch nicht aufgegeben habe, obwohl es manchmal etwas langatmig ist, dann nur wegen der vielen eingestreuten Erinnerungen: Koivo Deodorant Spray - hi hi, hab ich von meinem damaligen Freund zu Weihnachten geschenkt bekommen, klingt in heutigen Zeiten vermutlich eher nach einem Wink mit dem Zaunpfahl, aber damals war 'Koivo' eine sehr exquisite und teure Kosmetiklinie. Anders als 'Action', die ich mir selbst kaufte. Die Fahrkartenautomaten mit Hebel und Fahrkartenrolle - zehn Pfennig die Fahrt. Dafür bekam man auch eine Doppelsemmel oder konnte eine Postkarte verschicken. >>Hier habe ich eine interessante Liste mit den DDR-Preisen gefunden. Fünfundzwanzig Mark für eine Kassette. Deshalb habe ich mir Kassetten auch immer aus dem Intershop geholt, ich glaube, für fünf Westmark. Früher wollte ich gerne selbst mal einen tausendseitigen Roman schreiben. Es ging mir gar nicht so um Inhalt, als nur um die tausend Seiten. Ist wahrscheinlich wie bei denen, die davon träumen, einen Marathon zu laufen. Auf so eine Idee würde ich freiwillig niemals kommen. Aber jeder hat halt so seine eigenen faszinierenden Grenzen und Herausforderungen, die reizen, sie zu knacken. Geworden sind es nur zweihundertdreißig Seiten. Nun ja, in meinem Alter denke ich jetzt, lieber zweihundertdreißig Seiten, die bis zum Ende gelesen werden, als tausend Seiten, bei denen man einschläft oder in der Mitte aufhört.
"Magie war ein Wort, das Meno nicht liebte. Er hatte Ehrfurcht vor dem, wofür es stand und was es ausdrückte, nur unzulänglich seiner Meinung nach und etwas hilflos, "ein Etikett auf einem Einweckglas, in dem sich die Dinge befinden, wenn wir uns erinnern", wie er sagte, wenn Christian empört über seine eigene Wortlosigkeit und gequält von der Anstrengung, Menos Forderungen nach beschreibender Präzision zu erfüllen, kurzen Prozeß machen wollte, indem er dieses Wort gebrauchte, um etwas zu charakterisieren, das ihn auf noch unerklärliche Weise faszinierte. "Du gebrauchst es wie eine Fliegenklatsche, denn Totschlag ist natürlich auch eine Methode, etwas zu bannen", bemerkte Meno dazu, "aber damit umkreist du nur deine Hilflosigkeit, wie es schlechte Schriftsteller tun, die nicht fähig sind, ein Phänomen zu erzeugen - was der eigentlich schöpferische Akt wäre -, sondern nur dazu imstande sind, über das Phänomen zu reden; eben 'Magie' zu sagen, statt aus Worten etwas herzustellen, das sie hat".
Gerade das hatte ich mir auch von diesem Buch erhofft, zumal Dresden eine der magischsten Städte ist, die ich kenne. Bis auf die Einführung habe ich aber von Magie noch nicht so viel gespürt. Vielleicht kommt ja da noch was. Neben Dresden sind auch Prag oder Budapest magisch. Komischerweise habe ich an Budapest kaum Erinnerungen. Das, was sich mir dort am meisten eingeprägt hat, war eine goldene Haustürklinke mit einem Löwenkopf. Genau diese sehe ich jetzt immer vor mir, wenn ich an Budapest denke. Dunkel erinnere ich außerdem die Fischerbastei und die riesige Markthalle, aber ansonsten nur eine Unterkunft in einer kleinen Wohnung mit langer Außengalerie zum Hof und einer sehr herrischen und unfreundlichen alten Dame als Gastgeberin. Sie zwang uns abends immer, mit ihr Karten zu spielen, egal wie fertig wir von unseren Ausflügen waren. Natürlich nicht mit Gewalt, aber wenn sie herrisch mit ihrem Krückstock aufstapfte und alle in die Küche befahl, traute sich niemand, sich zu widersetzen. Schließlich wollte man ja höflich sein. Wahrscheinlich fand ich das sehr anstrengend, so daß ich meine Eindrücke von Budapest nicht mehr verarbeiten konnte. Man hatte ein bißchen den Eindruck, daß sie nicht nur deshalb Gäste in ihren zwei Zimmern übernachten ließ, um sich Geld dazu zu verdienen, sondern auch um Gesellschaft zu haben, weil sonst niemand Lust darauf hatte. Weil ich im Buch nicht so viel Dresden-Magie fand, habe ich mir stattdessen mal wieder meine Dresden-Bilder angeschaut und fehlende in meinem Dresden-Album ergänzt (auf Bild klicken und Diashow starten).
(Zitate aus "Der Turm" von Uwe Tellkamp)
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