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Dienstag, 18. Oktober 2022

Noch höherer Besuch

Oha, so langsam wird es interessant im Tagebuch meines Urgroßvaters. Nachdem um Gründonnerstag bereits vermehrte Aktivitäten bezüglich hohen Besuchs zu beobachten waren, kam dieser schließlich am 14. April wirklich. Das Reiterfest am 14. April 1880 ist übrigens auch auf nachfolgender Seite über die Zietenhusaren erwähnt: http://www.zietenhusar.wg.am/die_zietenhusaren/ Doch lest selbst:

"Gründonnerstag, den 25/3. (1880)

Am Dienstag Abend voriger Woche war wie gewöhnlich Singestunde bei uns; am Mittwoch und Donnerstag Abend war ich wieder mit Privat-Arbeit beschäftigt und am Freitag ging ich mit mehreren Freunden spazieren. Da in diesem Jahre wieder einmal der Geburtstag unseres geliebten Kaisers in die Karwoche fällt, so wurde auf Wunsch des letzteren der erstere schon am Sonnabend, d. 20. offiziell festlich gefeiert. (Parade, Festessen etc.) Die kirchliche Feier wurde mit der Vormittagspredigt des Sonntags Palmarum verbunden; dieselbe hielt Sup. Glokke mit Zugrundelegung eines Psalmwortes, welches also beginnt: “Wünsche Jerusalem Glück, es müsse wohl gehen denen, die auf dich trauen u.s.w.”, da der genannte Sup. an diesem Tage auch noch die Konfirmanden (Knaben) einzuführen hatte, so verband er diese 3 Stück - Kaisers Geburtstag, Konfirmation und Palmsonntag auf eine schöne und sinnreiche Weise miteinander: der greise, fromme König ein Vorbild für die Knaben und das ganze Volk...

...Bei der heutigen Schlußprüfung der Fortbildungsschule hat Jochmann "Körners Werke “ als Prämie erhalten. Am Montag Morgen erfuhr ich zu meinem Bedauern durch Herm. Grundt, daß Carl Herrmans Mutter am Dienstag Abend plötzlich gestorben sei; abends war der letztere im Verein und bestätigte die traurige Nachricht. August Holstein war am Sonnabend nach Neu-Ruppin gereist, um der Einsegnung seiner Schwester Minna beizuwohnen und ist am Montag wieder von dort zurückgefahren. Am Dienstag Abend haben wir wieder gesungen (gekommen waren Herm. Gr., H.P., A.H., E.D., W. Günther u. W. Schulz.) Die Vorbereitungen zum Empfange seiner Majestät des Kaisers mehren sich jetzt immer mehr, und scheint es sich also zu bewahrheiten, daß derselbe, wills Gott, nach Rathenow kommt zur Jubiläumsfeier des 150jährigen Bestehens des Zieten-Husaren-Regiments am 10. April....

Freitag, den 7.Mai

Über ein Monat ist verflossen, seit ich den letzten Federstrich im Tagebuch machte, - eine Zeit voll von freudigen und segensreichen Erlebnissen. Die freie Zeit an den Wochentagen hatte ich immer mit Katasterschreiben zu thun und an den freien Abenden erging ich mich mit verschiedenen Freunden im Freien. An den in diese Zeit fallenden Sonntagen besuchte ich wie gewöhnlich die Vormittagsgottesdienste, und hörte die schönen Predigten, sowie auf die ergreifende Predigt am Bußtag (21. April) des Herrn Sup. Glokke; die freie Zeit vor und nach der Nachmittagsvereinsstunde wurde zu verschiedenen Spaziergängen benutzt: z.B. zu Onkel Clausius, in die Königliche Forst, zu Förster Siegfried u.s.w. 

Das großartige Reiterfest, auf welches, und namentlich auf das damit verbundene Erscheinen der Majestät des Kaisers, sich Rathenow schon Wochen und Monate lang ... gefreut und vorbereitet hatte, liegt nun auch längst hinter uns mit seinem bewegten Leben und Treiben. Nicht am 10. April, wie erst bestimmt, sondern am 14. April Abends 3/4 6 Uhr traf wirklich unser geliebter Kaiser nebst dem Kronprinzen, vielen königl. Prinzen, dem Grafen Moltke, dem Kriegsminister und anderen hohen Herrschaften auf dem hiesigen Bahnhof ein, und fuhr, nachdem er die daselbst anwesenden Deputationen begrüßt hatte, im zweispännigen, offenen Wagen, begrüßt von Hurrarufen der Volksmenge, auf der Reitbahn, gefolgt von den anderen Herrschaften in langer Wagenreihe. Nachdem dort die Vorstellung etwa um 8 Uhr beendet war, fuhr er durch die glänzend erleuchtete und geschmückte Stadt, um den “Großen Kurfürsten” herum und hernach zum Offiziers-Kasino, woselbst das Diner eingenommen wurde; dann nach im Ganzen ungefähr 4 stündigem Aufenthalt fuhr er um 10 Uhr wieder durch die dicht gedrängten Volksmassen zum Bahnhof, um nach Berlin zurückzufahren. Ich selbst habe dem geliebten Landesherrn bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal in sein freundliches Angesicht geschaut. Gott erhalte Ihn uns noch lange zum innern und äußeren Segen des Deutschen Reichs. Noch will ich erwähnen, daß mein Freund Carl Rehfeldt am Bußtag nach Berlin reiste, um der Hochzeit seiner Schwester beizuwohnen....

....Gestern nun haben wir durch Gottes Gnade das 30jährige Stiftungsfest des Jünglingsvereins festlich wieder begehen können. Als Festredner traf am Tage vorher schon der Missionar Lorbeer hier ein; derselbe hat schon 14 Jahre in Indien unter Hindu’s und Kohls (?) gewirkt, mußte aber vor einiger Zeit gesundheitshalber eine Erholungsreise nach Europa antreten; im August d. Jahres gedenkt er jedoch wieder nach Indien zurückzureisen. Derselbe hat uns dann auch Nachmittags und Abends in anziehender Weise mancherlei aus dem Gebiet der Mission in Indien erzählt; die Plätze waren namentlich Abends sehr zahlreich besetzt. Da Herr Missionar Lorbeer denselben Abend oder vielmehr in der Nacht wieder abreisen wollte, so warteten einige von den Jünglingen, - ich Karl, Ernst B., C. Rehf., A. Holst. u.s.w. eine Weile auf ihn, um ihn zum Bahnhof zu begleiten; Tante .... sah uns aus dem Fenster und rief uns alle Mann hinein und schenkte jedem noch ein Glas Wein ein. Später brachen wir auf, setzten uns einige Zeit auf dem Bahnhof ins Wartezimmer, als plötzlich der Inspector sagte, jetzt würde geschlossen und wir wohl oder übel wieder hinaus mußten. Da der betreffende Zug erst um 3/4 2 Uhr fährt, so gingen die ersten von uns nach Hause, nur Ernst B. und Adolf K. leisteten Herrn Lorbeer noch bis dahin Gesellschaft."

2 Kommentare:

  1. »...an den freien Abenden erging ich mich mit verschiedenen Freunden im Freien.«
    “sich ergehen“, welch exquisiter Ausdruck (wie “lustwandeln“) – tut ja heutzutage keiner mehr, schon gar nicht im Freien ; )

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    1. Ja, mein Urgroßvater kannte noch jede Menge exquisiter Begriffe, wie "Angesicht", "segensreich", "woselbst", "daselbst" usw. - da wird einem beim "Übersetzen" manchmal ganz feierlich zumute. ;-)

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