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Sonntag, 16. Oktober 2022

Tagebuch-Lektüre

Irgendwie ist in den letzten Jahren vor lauter Katastrophen, Krisen und Tanzen das Tagebuch meines Urgroßvaters nach der "Übersetzung" der ersten paar Seiten liegen geblieben. Und eine Übersetzung ist es fast wirklich, da ich obwohl deutsche Sprache, bei dieser alten Schreibschrift manchmal zehn bis zwanzig Minuten an einzelnen Wörtern herumrätseln muß. Ich habe mir vorgenommen, wieder regelmäßig weiterzumachen, allerdings brauchte ich allein für knapp zwei Seiten heute ganze zwei Stunden, zumal ich bei Orts- und Personennamen, die ich nicht richtig entziffern kann, dann auch mal im Internet nachschauen muß. >>Für den erwähnten Superintendent Glokke gibt es übrigens eine eigene Internet-Seite. Wer hätte das gedacht? Leider ist das Tagebuch nicht so richtig ergiebig, was eher wenig Antrieb gibt, so viel Zeit darauf zu verwenden. Wenn fast nur von den letzten Predigten und den Bibelstunden im Jünglings-Verein die Rede ist, haut mich das nicht gerade vom Hocker. Es müssen ja nicht gleich schmutzige Geheimnisse sein, aber so ein bißchen mehr aus dem Nähkästchen geplaudert. >>Das Spannendste war bisher die Geschichte von den gestohlenen Überziehern. Andererseits ist es aber trotzdem faszinierend zu lesen, wie die Leute damals ohne Fernseher, Radio, Computer und sonstige Ablenkungen ihre Tage und Abende herumgebracht haben. Anscheinend hat man sehr sehr viel gesungen, Singe-, Spiel- und Musizierabende veranstaltet, und auch Spazierengehen stand hoch im Kurs. Mein Urgroßvater war ein begnadeter Spaziergänger. Und das auch noch im hohen Alter, wenn man dem unten verlinkten Foto glauben darf. Immerhin gab es jetzt bei einer der letzten Predigten hohen Besuch. Doch lest selbst: 

"Sonnabend, den 6/3. (1880)

Am Donnerstag den 26. Febr. war ich mit Aug. und Mutter zur Fastenpredigt, die Herr Sup. Glokke über das Tragen des Kreuzes Jesu nach dem Vorbilde Simon von Kürann’s(Cyrene?) hielt. Sonntag Vormittag hörte ich die köstliche Predigt des genannten Sup., in welcher der Grundton war: Einer für Alle - Christus für uns! Später plauderte ich noch ein Stündchen mit A. Kretschmann und C. Rehfeldt. Nachmittags spielten Aug. und Aug. Holstein wieder gemeinschaftlich Geige, ich und C. Rehfeldt spielten “Puff”. Nachmittags war ich zum Verein und ging dann mit einer ganzen Anzahl Freunde (Vereinsmitglieder) in den Wald bei Neufriedrichsdorf, woselbst wir Jäger gg. spielten. Abends war ich im Verein. Herr Elberling las unter anderem einen Brief von Fröhlich und später eine schöne Geschichte weiter vor; in der letzten kam er so weit, als Niels Andersohn die Funde von dem Untergange des Schiffes, worauf Thomas und Andreas waren, auf die Hallig-Insel brachte. Nach dem Verein begleitete ich mit einigen Freunden wie gewöhnlich noch Onkel Clausius. Dieser Sonntag (der 29. Februar) brachte mich auf den Gedanken: Werde ich alle meine lieben Freunde noch um mich haben, wenn er (d. 29.) bei vier Jahren wiederkehrt?! Gott gebe es, daß ich wenigstens meinem lieben alten Freund, Hermann Grundt, noch recht lange in das liebe, treuherzige, offene Angesicht schauen kann. 

Am Montag war im Verein wieder Singestunde; ein neu hinzugekommener Jüngling, namens Krenzlin, wurde von Herrn Elbg. in den II. Tenor gebracht. Am Dienstag waren, trotz der den ganzen Tag und auch noch am Abend anhaltenden Stürme, vermischt mit Regen und Hagelschauern, die lieben Freunde wieder recht zahlreich erschienen, und übten wir: “Nach dem Sturme fahren wir” u.s.w. Am Donnerstag Abend war ich mit meinem Bruder Aug. wieder zur Fastenpredigt, in welcher Herr Prediger Nieter über das Wort des Herrn über zu den klagenden Weibern, die ihm auf seinem Kreuzesweg nachfolgten, sprach. An demselben Abend waren Emilie und Alb. Schönberg, und am Freitag Abend Pavels (ohne ihn), Em. Sih. C. D. und Aug. Holstein bei uns. Zufällig vor einigen Tagen in unseren kleinen Garten kommend, sah ich in diesem Jahr zum ersten Male die den schönen Frühling einläutenden, lieblichen Schneeglöckchen wieder blühen.

Montag, den 15. März (1880)

Am Mittwoch Mittag voriger Woche trieb mich das herrliche Frühlingswetter ein Stündchen ins Freie. Ich ging zum Brdbrg.-Thor (Brandenburger Tor?) hinaus, woselbst ich noch meinen lieben Hermann traf, oder vielmehr zu treffen gedachte, welcher auf Arbeit ging; dann begab ich mich auf den Weinberg daselbst meinen Gedanken verschiedenster Art nachhängend. Abends holten mich Hermann Grundt und Wilh. Günther ab und gingen wir - später gesellte sich noch Jochmann(?) zu uns - spazieren, wobei wir Onkel Cl. und denselben ein Stück nach Gebhdshf. begleiteten. 

Am Donnerstag Abend war ich mit Aug. zur Fastenpredigt, in der Herr Pred. Babenzien über das Wort Jesu sprach: Wenn das geschieht am grünen Holz, was will am dürren werden; an demselben Tage war >>Prinz Friedrich Carl hier, bei welcher Gelegenheit ich ihn zum ersten Male sah. 

Am Freitag Abend habe ich Kataster geschrieben. Am Sonnabend Mittag ging ich zur Beichte(?) (Mieter) und am Sonntag Vorm. mit Herm. Grundt zur Kirche, in der Herr Rüdiger Nieter über das Sonntags-Evangelium predigte; hernach genoß ich aus der Hand des genannten das heilige Abendmahl. Nachmittags war ich glücklich mit Herrn Grundt einmal allein spazieren gehen zu können (Weinberg). Nach dem Verein haben wir auch wieder einen Spaziergang gemacht und abends hörte ich im Verein die schöne Geschichte weiter."


Urgroßvater

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