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Mittwoch, 25. Januar 2023

Gruselige Rekonstruktion

Gestern war bei arte Themenabend mit zwei Teilen von >>"Berlin 1933 - Tagebuch einer Großstadt", einer wirklich taggenauen Rekonstruktion dieser Zeit aus Tagebüchern, Briefen, Bildern und Videos. Unter dem Link kann man sich die Sendungen noch bis zum 23.4. anschauen. Gruselig ist diese Rekonstruktion vor allem deshalb, weil das alles eben nicht lange her und vorbei scheint, sondern weil man sich in ein paar Dingen ebenfalls an die jetzige Zeitgeschichte erinnert fühlt, die man selbst miterlebt. Als in der Sendung die Rede von Nazi-Verkäufern war, die durch irgendwelche Verkäufe Geld für die Partei sammelten, ist mir zudem eine Familienerzählung wieder eingefallen, die mir vollkommen entfallen war. Aber zum Glück schreibe ich ja stets alles auf. 

Meine Urgroßmutter, die in der Altstadt von Küstrin wohnte, >>welche später am Ende des Krieges vollständig vom Erdboden verschwand, wurde während des Krieges regelmäßig von jemandem aus der Partei besucht, der kleine Holzfiguren verkaufte. Der Erlös wurde zur Kriegsfinanzierung genutzt. Meine Urgroßmutter kaufte regelmäßig etwas ab, bis zu jenem Tag schon ziemlich kurz vor dem Kriegsende. Sie hatte inzwischen einen ihrer Söhne, Onkel Walter, im Krieg verloren und weigerte sich, etwas zu kaufen. Stattdessen erklärte sie sinngemäß, sie hoffe, der Krieg sei bald vorüber. Darauf wurde sie von dem Verkäufer wegen Wehrkraftzersetzung angeschwärzt. Sie wurde von der Polizei abgeholt und es fand sogar eine Gerichtsverhandlung statt. Sie hatte jedoch glücklicherweise einen guten Rechtsanwalt, der alles auf die psychische Schiene wegen des Verlustes ihres Sohnes schob. Nur deshalb wurde sie frei gelassen, mußte sich aber regelmäßig wie eine Verbrecherin auf Bewährung bei einem Polizeirevier melden. Vom Onkel Walter gab es als letztes Lebenszeichen nur die Zeichnung eines Schlachtfeldes bei Stalingrad. Die Zeichnung existiert nicht mehr, vermutlich ist sie während der Ausbombung verloren gegangen, wie all die anderen Fotos und Familiendokumente mütterlicherseits.

Man fragt sich immer mal wieder bei diesen Geschichten, warum erst die eigenen Kinder und Angehörige in den Krieg ziehen und sterben müssen, bevor die Kriegslust vergeht und nicht mehr mitgemacht wird. Ich finde ja die derzeitige Forderung, daß die "Khakigrünen" an die Ostfront sollen, nur recht und billig, denn sie brauchen diese Erfahrung anscheinend am dringendsten. Zu dem Thema gibt es beim rbb kultur auch ein berührendes Hörspiel nach der Erzählung von Anna Seghers "Der Ausflug der toten Mädchen", >>das man hier nachhören kann. Eigentlich mag ich Hörspiele nicht so gerne und bevorzuge Lesungen, weil ich das akustische Gewirr in Hörspielen eher nervend finde, aber bei dieser Erzählung gibt es nur eine Erzählerin, welche "sich in einer Art Schwebezustand zwischen Traum und Realität an einen fröhlichen Schulausflug aus dem Jahr 1912 und an die Geschicke der Klassenkameradinnen bis in den Zweiten Weltkrieg hinein erinnert. Sie ist dabei zugleich allwissende Beobachterin und als Schulmädchen Netty Teil der Handlung. Anhand der unterschiedlichen Biografien von späteren Opfern, Tätern und Mitläuferinnen zeichnet Seghers exemplarisch ein Spiegelbild der deutschen Bevölkerung und widmet sich, wie schon in ihrem berühmten Roman "Das siebte Kreuz", dem Geheimnis des Widerstandes - der Frage, was Menschen dazu befähigt, in einem inhumanen Alltag ihre Menschlichkeit zu bewahren."

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