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Mittwoch, 10. Mai 2023

Digitaler Zwang

Neulich lief mal eine recht gute Doku im NDR über den zunehmenden digitalen Zwang. Man kann sie sich hier: https://www.ardmediathek.de/video/45-min/digitaler-zwang-was-geht-noch-ohne-internet/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS9wcm9wbGFuXzE5NjM0MDg5OF9nYW56ZVNlbmR1bmc in der Mediathek anschauen. 

Daß vor allem alte Menschen dadurch zunehmend abgehängt werden und es für sie immer schwieriger wird, bestimmte Dinge im Alltag zu erledigen, kann ich bei meiner Mutter, die in diesem Jahr 89 Jahre alt wird, live miterleben. Wenn ich immer höre, wo nun schon wieder Schwierigkeiten auftauchen, hat man tatsächlich das Gefühl, daß alte Menschen gar nicht mehr offiziell existieren, bzw. nur noch in den Aufbewahrungsanstalten, wo sie keinen Ärger machen und andere alles regeln. Es gibt inzwischen ja sogar erwachte jugendliche Holzköpfe, die sich darüber empören, daß die Alten über 70 einfach nicht sterben wollen, Weil sie nämlich angeblich echte Fortschritte in der Digitalisierung, aber auch in anderen Bereichen, und den Aufbau einer schönen neuen Welt behindern. Fragt sich nur, ob das wirklich Fortschritte sind oder sie nicht eher in ihrer Totalität die Regression in kindliche Allmachtsphantasien darstellen. 

Der Wert einer Gesellschaft bemisst sich daran, wie in ihr mit schwächeren und alten Menschen umgegangen wird, denn genau dazu waren Gemeinschaften ursprünglich da: um in der Gemeinschaft stärker zu sein und Schwächere zu schützen. Es gab und gibt Gesellschaften, in denen alte Menschen gerade durch ihre Lebenserfahrung sehr geschätzt werden. Statt sich also über deren Sturheit aufzuregen, weil sie nicht alles mitmachen wollen, könnte man sich auch fragen, ob sich in dieser Weigerung nicht auch eine tiefere Weisheit verbirgt. Und in der Tat ist es alles andere als klug, sich komplett von irgendeiner Technologie abhängig zu machen, ohne welche nichts mehr geht, denn es reichen schon Stromausfälle, Unvorhergesehenes, Naturkatastrophen u.a., daß es wieder die analogen Fähigkeiten des Menschen sind, die ein Überleben sichern. Wenn diese über Generationen hinweg abtrainiert werden, weil man nicht mehr selbst denken, sich nichts mehr merken, nicht mehr laufen, nicht mehr rechnen oder schreiben ohne Rechtschreibprüfung muß, könnte es sein, daß die Menschheit irgendwann ganz von vorne anfängt. 

Von daher fände ich hier den Mittelweg, nämlich die Wahlfreiheit zwischen digital und analog sehr viel klüger. Allerdings ist auch klar, daß in einer Wachstumsgesellschaft, in welcher Profite das Heilige Kalb sind, um das sich alles dreht, niemand Geld hat für solchen "Luxus". Es ist schon fast irgendwie witzig, daß ausgerechnet dieses Wohlstandswachstum, auf das man nicht verzichten kann, in der Lebensqualität letztendlich für immer mehr Mangel und Mängel sorgt, sei es nun im sozialen Umgang, in der Ökologie, Lebensweise, Gesundheit, Ernährung und und und... Wahrer Luxus ist eben doch etwas anderes, als sich von Geld oder anderen Dingen abhängig zu machen.

Ich persönlich schätze die Vorteile der Digitalisierung sehr, deshalb habe ich schon früh begonnen, alles, was ging, über das Internet zu machen. Und viele Angebote im Internet, besonders von Behörden, nutze ich. Allerdings gibt es bei mir eine Grenze und die ist dann erreicht, wenn ich das Internet auch noch überall mit mir herumtragen muß. Ich hasse es, Dinge mit mir herumzuschleppen, und dazu zählen ebenfalls Smartphones oder Handys. Geld läßt sich gut und sicher in der Hosentasche verstauen, sogar ohne gesundheitliche Risiken oder >>Spermienreduktion, und wenn Geld runterfällt, ist es kein Problem. Mit Smartphones hat man dagegen wortwörtlich ein "Klotz am Bein", auf den man auch noch aufpassen muß wie auf ein Baby, damit er nicht kaputt geht oder in die falschen Hände gerät, weil da alle Banking-Apps drauf sind, ohne die Online-Banking nicht mehr funktioniert. Zudem ist es für mich alles andere als erstrebenswert, ständig erreichbar zu sein, selbst wenn ich Klingeltöne sowieso ausgeschaltet habe. So ein bißchen "Leichtigkeit des Seins" möchte man zwischendurch schon noch genießen, und genau der Genuß ist es, der komplett verloren geht, wenn man an ein Gerät gefesselt ist. Ich frage mich, ob Leute, die von früh bis abends am Handy hängen, überhaupt noch etwas genießen können, wenn sie irgendwann die Zeit dazu hätten. Denn allen anderen Sinnen, außer dem Sehen und Hören werden quasi die Scheuklappen angelegt, während das Sehen und Hören bis über jede Reizschwelle stimuliert wird.

Wenn die Alten in unserer Gesellschaft beinahe nicht mehr existent scheinen, liegt das aber nicht nur an der Digitalisierung, sondern auch an der zunehmenden Schnelligkeit und Mobilität. Wenn heutzutage mal jemand ganz langsam mit Rollator über eine Straße tappert, dann entsteht entweder ein Stau oder er wird überfahren. Und das meine ich im Ernst, denn in Berlin ist es tatsächlich so, daß man bei solchen Unfällen oft Fußgänger mit Rollatoren verwickelt sind. Anscheinend sind viele Autofahrer nicht einmal mehr in der Lage, sich die Langsamkeit des Alters und eines Rollatorgängers vorzustellen, um entsprechend darauf zu reagieren. Bei den Filial- und Amtsangeboten merkt man das ebenfalls. Als jemand, der kein Auto hat, gehört man quasi schon einer Minderheit an, und wenn man dann noch nicht mal gut zu Fuß ist, wird einem auf vielfältige Art unterschwellig mitgeteilt, daß man nicht zur Gesellschaft gehört und sich lieber die Kugel geben sollte. 

Meine Mutter zum Beispiel hat noch immer keinen neuen Personalausweis, der bei ihr im Dezember ausgelaufen ist, weil das einzige Bürgeramt, welches sie selbst noch problemlos erreichen kann, quasi das gesamte Jahr bereits seinen Dienst quittiert hat. Zuerst hieß es, das Amt sei wegen der Wahlwiederholung, danach wegen des Volksentscheids geschlossen. Der Volksentscheid ist inzwischen lange her und es steht nichts mehr davon da, daß das Amt geschlossen ist, aber Termine werden trotzdem nicht angeboten, es sind keine freigegeben und auch nicht gebucht, die Sprechstunden sind aber nur mit Termin. Was machen die da eigentlich? Meine Mutter meint, inzwischen ist es ihr langsam egal. Sie möchte nicht mit dem Taxi irgendwo anders hinfahren, denn in Autos wird ihr jetzt immer schlecht, und zudem bezahlt ihr das keiner. Und schon alleine die Gebühren für einen Personalausweis werden ja immer exorbitanter. Aber selbst wenn sie mit Taxi fahren wollen würde, ist es aussichtslos, da sogar berlinweit weiterhin kein einziger freier Termin in Sicht ist. Ich würde mal sagen, wenn die Ämter nicht mehr so arbeiten, daß jeder dort in angemessener Frist seine Angelegenheiten erledigen kann, gibt es bald auch keinen funktionierenden Staat mehr. Wahrscheinlich hat man dann bald schneller einem gefälschten Personalausweis als einen echten. 

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