"Das für die Zukunft einer Sprache der Bilder entmutigendste Dokument ist vielleicht der 1984 von Thomas A. Sebeok verfaßte Bericht für das amerikanische Office of Nuclear Waste Isolation und eine Reihe weiterer Institutionen, die beauftragt waren, Vorschläge zur Lösung eines Problems zu machen, das von der U.S. Nuclear Regulatory Comission aufgeworfen worden war. Die amerikanische Regierung hatte einige Wüstenzonen der Vereinigten Staaten ausgewählt, um darin (in vielen Hundert Metern Tiefe) nuklearen Abfall zu begraben. Das Problem war nicht so sehr, die Zone vor unbedachtem Eindringen heute zu schützen, sondern die Tatsache, daß die Abfälle noch in zehntausend Jahren radioaktiv sein werden. Große Reiche und blühende Zivilisationen sind in weit kürzeren Zeiträumen untergegangen, wir haben gesehen, daß einige Jahrhunderte nach dem Ende der letzten Pharaonen die ägyptischen Hieroglyphen unverständlich geworden waren, und es könnte sein, daß die Erde in zehntausend Jahren so große Umwälzungen erlitten hat, daß sie von Populationen bewohnt wird, die wieder barbarisch geworden sind, und nicht nur das, sie könnte sogar von Bewohnern anderer Planeten besucht werden. Wie kann man nun diesen Besuchern aus dem All mitteilen, daß die betreffende Zone gefährlich ist?...
...Eine Lösung wäre, Zeitabschnitte von jeweils drei Generationen festzulegen (ausgehend von der Überlegung, daß sich die Sprache in jeder beliebigen Zivilisation vom Großvater zum Enkel nicht wesentlich ändert) und durch entsprechende Instruktionen dafür zu sorgen, daß die Warnungen am Ende jedes Abschnitts neuformuliert werden, um sie den semiotischen Konventionen der Zeit anzupassen. Aber diese Lösung setzt genau jene soziale und territoriale Kontinuität voraus, die der Auftrag in Frage stellte. Eine andere Lösung wäre, die Gefahrenzone mit Warnbotschaften aller Art, in jeder Sprache und jedem semiotischen System zu überhäufen, in der Hoffnung auf die statistische Möglichkeit, daß wenigstens eines dieser Systeme den künftigen Besuchern verständlich bleibe. Wenn auch nur ein einziges Segment einer einzigen Botschaft entzifferbar bliebe, würde die Redundanz des Ganzen für die künftigen Besucher eine Art Stein von Rosette darstellen. Auch diese Lösung setzt freilich ein Minimum von kultureller Kontinuität voraus.
Bliebe also nur, eine Art Priesterkaste zu instituieren, gebildet aus Atomwissenschaftlern, Anthropologen, Linguisten, Psychologen, die sich durch Kooptation über die Jahrhunderte fortpflanzt und die Kenntnis der Gefahr am Leben hält, indem sie Mythen, Legenden und Aberglauben kreiert. Mit der Zeit würden sich die Angehörigen dieser Kaste verpflichtet fühlen, etwas weiterzugeben, dessen exakte Kenntnis sie verloren haben, und so könnten in ferner Zukunft, auch in einer wieder barbarisch gewordenen Horde, unpräzise, aber wirksame Tabus fortbestehen."
(aus >"Die Suche nach der vollkommenen Sprache" von Umberto Eco)
Hm, hm, bei dieser letzten "ultimativen" Lösung sehe ich allerdings das psychologische Problem, daß willkürliche Tabus ohne nachvollziehbaren Grund erst recht die Neugier wecken und geradezu zum Tabubruch einladen, außer dieses würde mit extremen Bestrafungen unterbunden. Die neuen barbarischen Horden hätten damit ja vielleicht kein Problem. Ich jedoch hätte da einen ganz anderen Vorschlag: Man könnte das gesamte Gebiet auch mit den Abbildungen aus Stein oder Beton der gräßlichsten und furchteinflößensten Höllen-Kreaturen umzingeln. Ich glaube, diese Sprache versteht jeder Besucher, außer er sieht genauso aus. Und wer trotzdem zu neugierig ist, ist halt selbst schuld. Echte Bilder sprechen manchmal eben mehr als Worte oder Piktogramme.
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