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Dienstag, 15. August 2023

To The Happy Few

Endlich habe ich eine Sache getan, die mich bereits fast mein ganzes Leben verfolgt - ich habe "Die Kartause von Parma" gelesen. Dieses Buch spukt mir seit meiner Kindheit im Kopf herum und zwar nur wegen dieses Worts "Kartause". Wenn ich das Buch unter den Büchern meines Vaters stehen sah, hatte dieses Wort irgendwie eine starke Anziehungskraft auf mich und in meiner Phantasie hielt ich als Kind die "Kartause" für eine vornehme Dame. Vornehme Damen kommen darin übrigens auch vor, aber irgendwann erfuhr ich, daß eine Kartause etwas anderes ist, und trotzdem fand ich diesen Titel mit den vielen "A" noch immer exotisch und zauberhaft. Deshalb meine Neugier. Wenn ich dieses Buch als Kind trotzdem nicht anfasste, lag dies vermutlich daran, daß ich schon "Rot und Schwarz" von Stendhal gelesen hatte und damit damals nichts anfangen konnte. Später machte mich zudem die Info neugierig, daß dieses Buch in zwei Bänden innerhalb von 53 Tagen geschrieben wurde, und zwar drei Jahre vor dem Tod Stendhals. Nun ja, genauer gesagt wurde es, wie ich jetzt weiß, nicht selbst geschrieben, sondern diktiert, was dann doch noch etwas anderes ist.

Goethe schrieb eine sehr begeisterte Rezension über den Roman, aber die übergroße Begeisterung, nicht nur Goethes, ist für mich nicht ganz nachvollziehbar. Ich kann mir das in seinem Fall nur mit der gemeinsamen Liebe zu Italien, den Italienreisen beider, und/oder den Erfahrungen bei Hofe erklären. Stendhal dagegen hatte wohl keine allzu gute Meinung über Goethe (und die Deutschen allgemein - aber dazu später mehr), er mokiert sich nämlich in "Rome, Naples et Florence en 1817" über Goethe "und die maßlose Lächerlichkeit eines Mannes, der sich für so wichtig hält, daß er uns in vier Oktavbänden erzählt, wie er sich mit zwanzig Jahren die Haare frisieren ließ und daß er eine Großtante hatte, die Anichen hieß...". 

Wenn mich das Werk nicht zu Begeisterungsstürmen hinreißt, dann alleine deshalb, weil es im Sprachstil nicht meinem Geschmack entspricht, doch das ist gar nicht weiter schlimm. Schließlich findet es trotzdem seine Anhänger und Stendhal damit seine Groupies. Man muß aber neidlos anerkennen, daß Stendhal den Leser in diesem Roman wirklich atemlos von einem Cliffhanger zum nächsten jagt, in einer Story voller Drama, italienischer Leidenschaft, Tragödie, auch Komik, und Intrigen. Gerade Intrigen sind eigentlich etwas, das mich eher ermüden und einschlafen läßt, da ich sie einfach nie kapiere. Ich kann mich noch an das Buch "Gefährliche Liebschaften" erinnern, das ich in der Pubertät las und zum Gähnen fand, wahrscheinlich weil ich die Intrigen nicht verstand. Aber in der Kartause habe ich trotzdem gelesen ohne mich zu langweilen. Unwillkürlich hatte ich während des Lesens immer die Serie "Weissensee" im Kopf, bei der ich nicht aufhören konnte zu schauen, weil man dort ebenfalls in eine Story voller Drama, Leidenschaft, Politik und Intrigen hineingezogen wurde, nur daß diese Geschichte in einer anderen historischen Zeit spielte, während die Kartause mit der Schlacht von Waterloo beginnt. Und der Roman hätte echt das Zeug, als Vorlage für eine lange historische Seifenoper herzuhalten. 

Im Grunde muß man nur zwei Dinge über Stendhal wissen, um zu verstehen, warum sein Schreibstil mir nicht liegt: Er hat bei seinem Schulabschluß einen ersten Preis in Mathematik erhalten und haßte Sonntage. Ich bin mathematisch völlig talentfrei und liebe Sonntage. Ich glaube, die Merkur/Pluto-Konjunktion im dritten Haus ist die einzige Gemeinsamkeit, die wir haben. Er schreibt auch selbst über seinen Stil: "Wahrscheinlich schreibe ich deshalb schlecht; aus übertriebener Liebe zur Logik...Für mich gibt es nur eine Regel: klar sein. Wenn ich nicht klar bin, ist meine ganze Welt zerstört."

Dieses Problem mit seinem Stil scheint aber nicht nur ein individuelles zu sein, sondern seinerzeit die gesamte literarische Welt gespalten zu haben. Vor allem Balzac lobt den Roman in einem langen Essay über den grünen Klee als Meisterwerk und Geniestreich, übt aber ebenfalls harte Kritik. Und das nicht nur am Stil. Er war auch der Meinung, der Roman dürfe nicht in Parma spielen. In einer Antwort versucht Stendhal ihm zu erläutern, warum die Handlung nur entweder in einem kleinen deutschen oder italienischen Fürstentum spielen kann, und warum es nicht Deutschland sein sollte: "Aber die Deutschen liegen vor jedem Ordensband auf den Knien, sie sind so dumm! Ich habe einige Jahre mit ihnen gelebt und aus Verachtung ihre Sprache vergessen. Sie werden sehen, meine Figuren konnten keine Deutschen sein....Rassi war ein Deutscher; ich habe 200mal mit ihm gesprochen." Entschuldigung, wenn ich hier kichern muß - aber Stendhal hätte sich wohl heute sehr in seiner Meinung bestätigt gefühlt. Rassi ist der korrupte Richter im Roman, der nach oben bis zum Masochismus buckelt und nach unten tritt. 

Balzac war außerdem der Meinung, daß Don Blanes völlig unnötig ist und gestrichen werden sollte. Stendhal hat dies in seinen Anmerkungen kategorisch ausgeschlossen - Don Blanes sei nötig. Und da bin ich ganz bei ihm, Don Blanes ist nötig. Denn mit seiner kriminellen Sterndeuterei legt er quasi den Grundstein für alle Irrungen und Wirrungen und verleiht dem Ganzen ein wenig den Anstrich eines von Göttern gelenkten komischen Heldenepos. Überhaupt erinnert mich der Erzählstil, auch wenn Stendhal ihn logisch nennt, ein bißchen an eine kurze und bündige Märchenerzählung, deren Zauberhaftigkeit vor allem aus dem Inhalt entsteht. Und die Erzählweise ist ebenso unschuldig wie ein Märchen, oder wie Balzac schreibt: "Obwohl die Herzogin, Mosca, Fabrizio, der Fürst und sein Sohn, Clelia, obwohl das Buch und die Figuren auf allen Seiten die Leidenschaft mit all ihren Rasereien ist, obwohl es Italien ist, wie es ist, mit seiner Schläue, seiner Verstellungskunst, seiner List, seiner Kaltblütigkeit, seiner Hartnäckigkeit, seinem geschickten Taktieren in allem; die Kartause von Parma ist keuscher als der puritanischste Roman von Walter Scott." Dennoch scheint mir Balzac einige pikante Andeutungen des Monsieur Stendhal überlesen zu haben. Zum Beispiel habe ich die Geschichte, in der die Herzogin sich und ihre Ehre dem Fürsten verspricht, wenn dieser Fabrizio freiläßt, ganz anders gelesen. Balzac schreibt: "Nachdem Fabrizio freigesprochen....findet die Herzogin Mittel und Wege, sich ihrem Versprechen zu entziehen, und zwar durch eine jener Alternativen, wie Frauen, die nicht lieben, sie immer mit unnachahmlicher Kaltblütigkeit zu finden verstehen." Hm, im Buch selbst steht: "Die Herzogin wiegte sich in der Hoffnung, dem Fürsten so unentbehrlich zu werden, daß sie einen unbegrenzten Aufschub erwirken könne, wenn sie sagte: Falls Sie so barbarisch sind, mich dieser Demütigung unterwerfen zu wollen, die ich Ihnen niemals verzeihen würde, verlasse ich am Tag darauf Ihr Land...", auf des Fürsten Insistieren sagt sie schließlich: "Gut! kommen Sie heute abend um zehn, in strengstem Inkognito, und Sie werden einen schlechten Handel machen. Sie sehen mich dann zum letzten Mal...", "...Nachdem die empörte Herzogin ihn davongejagt hatte, wagte er zitternd und todunglücklich drei Minuten vor zehn wieder aufzutauchen. Um halb elf stieg die Herzogin in ihre Kutsche und fuhr ab nach Bologna." Was hat die Herzogin eine halbe Stunde lang mit ihm gemacht? Adressen ausgetauscht?

Auch die Kriegsbeschreibungen finde ich ziemlich unschuldig. Im Vergleich zu den Grausamkeiten heutiger Kriege erscheinen einem die Schlachten in diesem Buch fast ein bißchen wie "die gute, alte Zeit". Das mag damals anders gewesen sein, denn hier schwärmt Balzac: "In allem, was ich vom Kriege weiß, war mein erster Lehrer Stendhal." Stendhal dagegen kannte alles aus erster Hand, denn er hatte in Kriegen mitgekämpft, hält sich bei Beschreibungen aber eher bedeckt, ganz besonders gegenüber Frauen. So zum Beispiel in Briefen an seine Schwester. In seinem Tagebuch gesteht er, daß diese Briefe geschönt waren. Und auch in einigen Briefen spricht er eine andere Sprache, an Félix Faure zum Beispiel schreibt er: "Bei der Durchfahrt durch Ebersberg war ich wirklich nahe daran mich zu übergeben, als ich sah, wie die Räder meines Wagens die Eingeweide aus den Leichen der armen kleinen, halbverbrannten Jäger preßten." Vermutlich wollte er mit seinem Roman niemanden verstören, insbesondere nicht die Frauenzimmer.

Inspiration für die ganze Story fand er in der Familiengeschichte der Farnese, bevorzugt des Alessandro Farnese, die er in alten Dokumenten ermittelte, welche er eigenhändig aus einem verstaubten Archiv hervorkramte. In der mir vorliegenden Ausgabe sind neben der Neuübersetzung von Elisabeth Edl, der Essay von Balzac (zu allem Überfluß spoilert er darin auch noch, was ich hier nicht tun möchte), Briefe zwischen Stendhal und Balzac, die italienischen Dokumente, verschiedene Entwürfe für eine Neuausgabe, sowie sämtliche Anmerkungen Stendhals für eine Überarbeitung enthalten. Ich habe alle gelesen. Die Entwürfe für eine Neuausgabe, die Stendhal aufgrund der Kritik Balzacs an seinem Stil begann, zeigen mal wieder, wie jemand sich unnötigerweise verunsichern läßt, nur weil der eigene individuelle Stil nicht zum Zeitgeschmack paßt oder nicht den Regeln entspricht. Man merkt auch, daß Stendhal eher mißmutig an die Überarbeitung gegangen ist, denn obwohl er seinen guten Willen zeigt, schreibt er in seinen Anmerkungen Entschuldigungen wie "Ich bitte den Leser von 1880, falls sich ein solcher findet, um Verzeihung. Um 1838 gelesen zu werden, mußte man sagen: lauschte der Stille." Dabei ist ein individueller Stil ja auch ein Alleinstellungsmerkmal, während darunter, sich selbst zu verbiegen um "Experten" oder der Masse zu gefallen, entweder das Werk leidet oder man selbst (oder beides). Vermutlich ist es genau wegen dieses Stils zum Kultbuch geworden. 

Was mich persönlich viel mehr stört als der Stil, ist dieses ziemlich abrupte Ende. Die Kartause selbst kommt erst in den letzten paar Seiten vor. Dies könnte daran liegen, daß Stendhal eigentlich drei Bände geplant hatte, aber vom Verleger genötigt wurde, daß Ende einzukürzen. Ansonsten gäbe es heute einen dritten Band, den man vermutlich genauso schnell verschlungen hätte, und in welchem auch die Kartause noch näher vorgestellt worden wäre. Stendhal selbst war mit dieser Kürzung nicht sehr glücklich. Weiterhin ist mir ein Rätsel, warum sich Stendhals Groupies für die "happy few" halten. Ich verstehe diese letzten Worte des Romans ganz anders und halte die "happy few" für jene, welche alle Dramen, Kriege, Hofintrigen, Giftmorde, gebrochene Herzen, Leidenschaften, schadlos überstehen und bei allem noch reicher, mächtiger und glücklicher werden. Das sind nicht allzu viele.

4 Kommentare:

  1. Die begeisterte Rezension schrieb Goethe über den Roman "Rot und Schwarz". Die "Kartause" erschien erst nach Goethes Tod.

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    1. Ich habe noch mal im Buch nachgeschaut: Die dort abgedruckte Rezension bezieht sich auf "Rome, Naples et Florence, en 1817", also ganz was anderes. Das war mit entgangen, danke für den Hinweis. Dann muß ich mich ja über die Begeisterung Goethes auch nicht mehr wundern.

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  2. Ich habe vor langer Zeit "Lucien Leuwen" von ihm gelesen. War kein guter Einstieg. Allein die Vorworte, Skitzzen, Bruchstücke, Testamente und Nachworte nahmen 80 Seiten in Anspruch. Dazu kamen noch Fußnoten, die, wären sie jeweils unten auf den Seiten erschienen, noch mehr Platz von den ca. 800 Leseseiten beansprucht hätten. Aber ich habe durchgehalten. Stendhal mag ja eine literarische Offenbarung sein in seinem realistischen Schreibstil, er kommt mir aber vor wie ein Buchhalter, der Zahlen in ein Kassenbuch schreibt. Die Handlung:
    Junger Mann aus reichem Hause verliebt sich in eine rotblonde Witwe. Er macht einen Rückzieher und geht in die Politik.
    Ein Bekannter, der bestimmt mehr Ahnung von Literatur hat als ich, schrieb folgendes:
    "Langstreckenlangweilig. Aber was Wunder. Der hat doch, bevor er sich an den Schreibtisch setzte, zuerst das bürgerliche Gesetzbuch gelesen, damit sein Stil gegen Schwulst gefeit bleibt."
    Irgendwo hatte ich dann gelesen, dass Stendhal mit diesem Roman den davor etwas optimistischer erscheinen lassen wollte. War es "Rot und Schwarz"? Egal, zu spät für mich. was bedeutet denn jetzt diese Kartause? ;-)

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    1. Das mit dem Buchhalter paßt zu seiner Liebe zur Logik und Mathematik. Die Kartause fand ich jetzt nicht wirklich so extrem trocken, was aber vermutlich der ausgiebigen Handlung zu verdanken ist, die ja "abgeguckt" und nicht ganz von ihm ist. Und ja, hier im Buch steht auch, daß seine Lieblingslektüre das Bürgerliche Gesetzbuch war, zumindest hat er das behauptet. Vielleicht war es aber auch ein bißchen geflunkert, denn im Roman gibt es viele Anleihen an andere Bücher. Die Kartause ist ein Kloster des Kartäuserordens, Stendhal hat den Begriff aber auch generell für Kloster verwendet.

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