Nachdem ich mich zuletzt mal wieder über endlos lange YouTube-Videos mit so gut wie keinem lohnenswerten Inhalt mokiert habe, ist es mir eine Freude, nun doch einen Fund empfehlen zu können, welcher das genaue Gegenteil ist, >>nämlich das "letzte" Interview mit Serdar Somuncu. Ich mochte seine Radiosendung, ich fand die sogar sehr viel interessanter als die "Hörbar Rust", die auf mich eher einschläfernd wirkt, aber leider hat er damit aufgehört. Das letzte Interview ist dreieinhalb Stunden lang, also fast so lang wie "Vom Winde verweht", doch jede Minute wert. Ok, ich verstehe nicht so ganz, warum die beiden die ganze Zeit im Dunklen hocken, aber es störte mich schon deshalb nicht, weil ich während dessen eh klebte und nur mit den Ohren dabei war. Die Mischung aus Unterhaltung und tiefsinnigen Gedanken, wie gewohnt auch manchmal kontrovers und provozierend, sorgt über Stunden hinweg für Kurzweiligkeit. Zuerst plaudert Serdar über seine Familie- und Lebensgeschichte, darüber wie die türkischen Gastarbeiter-Eltern Deutschland und die deutsche Kultur wahrnahmen, wie er selbst Deutschland als Kind erlebt hat und aufgewachsen ist. Ich fand die Geschichten sehr unterhaltsam und berührend. Später kommen auch politische, philosophische und historische Themen nicht zu kurz. Weiterhin gibt es Einblicke in die Comedy-Szene. Sowie ein bißchen Wunden lecken und die Gründe, warum er sich zurückzieht. Nun ja.
Unter anderem spricht er über seine Lesungen von "Mein Kampf". Ich hatte ja ebenfalls mal versucht, das Buch zu lesen, aus reiner Neugier, weil ich wissen wollte, ob Hitler nach außen tatsächlich so dargestellt wird, wie er war. Als jemand, der sich für Geschichte interessiert, weiß ich, daß Überlieferungen gerne auch aus bestimmten Interessen heraus abgeändert werden. Allerdings habe ich nach fünf Minuten gräßlichstem Geschwurbel genervt aufgegeben. Später las ich dann "Hitlers Tischgespräche", also Mitschriften der Gespräche dort im Hause bei Tische. Das Buch war recht umfangreich, aber immerhin das Geschwurbel ab und zu von Beschreibungen der Beobachter unterbrochen, was etwas interessanter gewesen ist. Ich brauchte das quasi, um mir meine eigene Meinung zu bilden. Nach diesem Buch entschied ich, daß ich jetzt alles weiß, was ich wissen muß, und mir "Mein Kampf" sparen kann. Irgendwie scheint das eine ziemliche Macke von mir zu sein, keine Meinungen übernehmen zu wollen, ohne sie selbst zu überprüfen. Wenn ich darüber nachdenke, woher das kommt, fällt mir das Aufwachsen in der DDR ein. Jedoch habe ich nicht den Eindruck, daß alle, die im Osten aufgewachsen sind, diese ausgeprägte Eigenheit besitzen. Muß wohl auch ein bißchen Veranlagung sein. Zum Glück aber konnte ich die Macke mit zunehmendem Alter derart entschärfen, daß sie nur noch bei wichtigen Themen "aktiviert" wird und nicht mehr bei so unwichtigen Sachen, ob man nun in ein bestimmtes Restaurant gehen kann oder nicht. Das muß ich dann nicht mehr selbst überprüfen, außer meine Neugier wird extrem geweckt.
Übrigens war Hitler vegetarisch und sehr tierlieb. Kennt man ja - wenn die echte Empathie für Menschen fehlt, nimmt man sich Tiere als Ersatzobjekte. Sowas findet man heute auch überall, vielleicht sogar mehr als früher. Was nicht heißt, daß Tierliebe an sich schlecht ist, nur kann sie leider niemals darüber hinwegtäuschen, wenn sie nur als Kompensation für fehlende Empathie benutzt wird, um sich selbst als guter Mensch zu fühlen. Man merkt, wenn es Fassade ist. Fun-Fact: >>Das heutige Tierschutzgesetz geht im Wesentlichen auf das das Reichstierschutzgesetz von 1933 zurück, das damals als das beste der Welt galt, und wurde im Kern auch niemals in Frage gestellt. Das neue Tierschutzgesetz wurde erst 1972 erlassen, von den ideologischen Verwerfungen gesäubert. Im Grunde ist das eigentlich ein Eingeständnis, daß zu dieser Zeit nicht alles schlecht gewesen ist, nur darf man sowas nicht laut sagen, bzw. man muß immer dazu erwähnen, daß dieses Reichstierschutzgesetz als Werkzeug für Ideologie und Rassenwahn diente, um zum Beispiel durch das Verbot jüdischer Rituale antisemitische Stimmung zu schüren. Teilweise heißt es sogar, den Nationalsozialisten ging es nie darum, Tiere zu schützen. Das halte ich für übertrieben, denn: >>"Tierversuche wurden im weiteren so rigoros wie nie zuvor reglementiert. Institute mussten Genehmigungen beim Reichsinnenminister einholen. Bei Versuchen waren grundsätzlich Betäubungen vorzunehmen." Hitler wollte sogar Tierversuche ganz verbieten lassen, konnte dies aber aufgrund wissenschaftlicher Notwendigkeiten nicht durchsetzen. Später folgten zudem ein Reichsjagdgesetz und ein Naturschutzgesetz. Hitler hielt Jagd für Mord. Man kann es drehen und wenden so viel man will, dieses erste deutsche Tierschutzgesetz war ein immenser Fortschritt in der damaligen Zeit und deshalb wurde Hitler dafür von amerikanischen Tierschützern mit Ehrenurkunden und Medaillen überschüttet. Schöner wäre es natürlich gewesen, wenn dieser Fortschritt echter Empathie entsprungen wäre und nicht nur der psychischen Kompensationsstrategie eines Völkermörders. Wohin es führt, wenn das Wahrnehmen und Äußern von Graustufen abtrainiert wird, und nur Schwarz-Weiß-Meinungen erlaubt sind, sieht man nun an den derzeitigen Früchten. Eine Gesellschaft braucht Menschen, die Zwischentöne wahrnehmen und äußern, das reine Herunterbrechen auf Schwarz-Weiß ist immer eine Illusion und Projektion. Auf diese Weise wird ein Thema nie vollständig durchdrungen. Und es fördert sogar, daß das Tabuisierte für Außenseiter eine um so größere Anziehungskraft ausübt.
Verstehen kann man es durchaus, daß Serdar keinen Bock mehr hat. Ich bekomme zwar keine Shitstorms, aber manchmal frage ich mich ebenfalls in diesem zunehmenden Prozeß der Meinungsverengung durch autoritäres Niedermachen oder Schlimmeres, wann wohl der Punkt ist, an dem ich mich zurückziehen sollte, und ob ich den Absprung rechtzeitig schaffe. Ab da gibt es nur noch Katzenbilder von mir.
"Irgendwie scheint das eine ziemliche Macke von mir zu sein, keine Meinungen übernehmen zu wollen, ohne sie selbst zu überprüfen. Wenn ich darüber nachdenke, woher das kommt, fällt mir das Aufwachsen in der DDR ein. Jedoch habe ich nicht den Eindruck, daß alle, die im Osten aufgewachsen sind, diese ausgeprägte Eigenheit besitzen. Muß wohl auch ein bißchen Veranlagung sein."
AntwortenLöschenDas ist keine Macke, sondern gesunder Skeptizismus und die Fähigkeit zu originärem Denken. Eine für meinen Geschmack leider viel zu seltene Eigenheit, ja Qualität. Ich stelle dieses Defizit im selben Ausmaß bei Ost- wie West-sozialisierten Menschen fest. Es ist eine Charakterfrage. Ich empfinde es als Trauerspiel, wenn vorgekaute, vorgedachte Weltbilder, in rasendem Tempo flächendeckend übernommen werden und jeder, der eine völlig eigene Einordnung versucht, sofort in eine der vorhandenen Schubladen gepresst, gequetscht wird, auch wenn die andere Sichtweise keinem vorhandenen Schubladenetikett entspricht. Dann liegt man auf einmal als Taschenlampe in der Trötenschublade, weil beides zufällig mit T anfängt.
Sehr schön formuliert, vor allem die Taschenlampe in der Trötenschublade gefällt mir. ;-) Doch die rasante Zunahme dieses Trauerspiels macht mir Angst, wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob es tatsächlich eine Zunahme gibt oder ob das früher einfach nicht so stark aufgefallen ist.
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