ThingsGuide

Samstag, 9. November 2024

Mauerfall verpennt

Na ja nicht wirklich verpennt, sondern der Mauerfall ist eher so im Halbschlaf an mir vorbeigegangen, weil ich nämlich Nachtschicht hatte. Das heißt, ich saß relativ dösig an meiner Schlaufenmaschine und jagte die Stoffstücke durch, die zu Schlaufen für Herrenanzüge wurden, welche später in den Westen exportiert wurden. In der DDR bekam man richtig viel Mäuse dafür, in guten Monaten - es ging ja immer auch zu einem Teil nach Leistung, weshalb der Verdienst schwankte - konnten es bis zu 1500 DDR-Mark sein, mehr als meine Eltern als "Intellektuelle" verdienten. Ich arbeitete also vor mich hin und während der Pausen hörte man so Gerüchte, der und der hätte gesagt, die Mauer sei offen. Ich habe das aber nicht für voll genommen, weil es jenseits meiner Vorstellungskraft lag, sondern dachte mir, das ist nur blödes Gerede, wie es manchmal so die Runde macht. Früh um 6 Uhr war stets der beste Moment jeder Nachtschicht, weil ich nach Hause fuhr, während um mich herum alle zur Arbeit strömten. Ich hatte aber auch an diesem Morgen nicht den Eindruck, daß irgendwie mehr Menschen auf den Beinen waren als sonst, denn es war ja immer viel Betrieb zu der Uhrzeit, aber vielleicht war ich zu müde, um es wahrzunehmen. Am nächsten Tag schnallte ich es weiterhin nicht, weil ich ja zu dieser Zeit keinen Fernseher besaß. Ich schlief also erst, wurschtelte so vor mich hin und abends ging es zur nächsten Schicht. Dort erfuhr ich dann von anderen, daß die Mauer tatsächlich offen ist, aber ehrlich gesagt glaubte ich es nicht. Trotzdem verabredete ich mich mit zwei Kolleginnen für den Samstag, denn ich dachte mir, wenn ich mit denen zum Übergang fahre, werde ich ja sehen, ob es stimmt oder nicht. 

Denn ersten Abstecher in den Westen machten wir über die Sonnenallee und es bildete sich dort eine kilometerlange Schlange. Wir stellten uns an, Schlangestehen waren wir ja gewohnt. Um das Begrüßungsgeld abzuholen eine weitere kilometerlange Schlange. Endlich war das Schlangestehen abgearbeitet und wir hingen nun etwas verloren auf einem der U-Bahnhöfe herum. Die U-Bahnen waren so überfüllt, daß man nicht mehr hineinpaßte. Ein Migrant, der in Westberlin lebte und arbeitete, sprach uns an und wir ließen uns von ihm Westberlin zeigen, also einen Teil von Westberlin, hauptsächlich Kudamm und Umgebung. Irgendwo kaufte er für uns Eßkastanien und zeigte uns, wie man die ißt. Der Samstag war schnell rum, aber mein Begrüßungsgeld hatte ich nicht ausgegeben. Dazu ging ich dann eine Woche später alleine "rüber", an einem kleineren Übergang in der Nähe. Es war irgendwie total surreal, daß man plötzlich diese Straße einfach weitergehen konnte und nach der Brücke aber quasi in ein anderes Land kam, denn es war ja noch alles anders als bei uns. Ich lief also einfach immer geradeaus, irgendwann kamen Supermärkte und ein Woolworth, dort ließ ich mein Begrüßungsgeld, ich weiß aber nicht mehr wofür. Eigentlich hatten sie nicht so viel andere Sachen als im Intershop. Könnte sein, daß ich mir dort den Walkman für Kassetten kaufte, den ich damals besaß, Kassetten holte ich aber meist im Intershop. Mit Westverwandtschaft, die mir oft etwas Westgeld schickten, war ich da ganz gut aufgestellt. Oder ich habe das Westgeld manchmal der Oma meiner Schulfreundin mitgegeben, die mir dann aus dem Westen Platten mitbrachte, die ich unbedingt haben wollte. 

Nachdem der Westen so nach und nach die DDR übernommen hatte, war es allerdings schlagartig vorbei mit gutem Verdienst. Ich erhielt auf einmal für dieselbe Arbeit so wenig, daß ich nicht mehr davon leben konnte und mit Sozialhilfe aufstocken lassen mußte. Ich bin ja schon immer ein wenig langsam und deshalb nicht überlebensfähig unter profitwirtschaftlichen Produktionsnormen. Das war quasi meine erste persönliche Begegnung mit der kapitalistischen Ausbeutung, die ich vorher nur vom Hörensagen kannte. Licht und Schatten wie überall. Das obere Teil ist der Kassettenrecorder, den ich damals hatte, mono, sehr teuer - über 1000 DDR-Mark und vom Jugendweihegeld gekauft:

DDR-Recorder

Keine Kommentare

Kommentar veröffentlichen

Die Kommentare werden im Tresor gebunkert und bei Gefallen freigeschaltet. ,-)