Meine Mutter kennt noch den Krieg. Sie hat als Halbwüchsige die Endkämpfe in Berlin miterlebt, wo ihre Familie ausgebombt wurde. Ihre Erlebnisse hatte ich schon einmal aufgeschrieben und erzählt. Letztens meinte sie zu mir, die jungen Leute können sich überhaupt nicht vorstellen, wie Krieg ist, und man kann es ihnen auch nicht vorwerfen. Sehr wahr. Geschichte wird wohl, je weiter sie in der Vergangenheit liegt, immer abstrakter und ist irgendwann nichts mehr als eine Legende, die man sich am Herdfeuer erzählt, aber nicht mehr versteht. Ich war früher ja mal Geschichtsfan und habe viel über Geschichte gelesen und angeschaut, aber auch dann weiß man nicht, ob man die Geschichte wirklich kennt, da an der späteren Erzählweise gerne mal "herumgewerkelt" wird. Und was das alles persönlich mit den Menschen gemacht hat, wie sie es in ihrer eigenen Wahrnehmung gesehen haben und was sie da alles erlebt und erlitten haben, kann man niemals voll erfassen. Genau dieser letzte Punkt ist es, der mich an Geschichte besonders fasziniert, weil ich mir bei all den Ereignissen der Vergangenheit, die ich als Abfolge konsumiere, immer versuche vorzustellen, wie die unausgesprochene Lücke zwischen diesen Daten, nämlich das äußere und innere Erleben normaler Menschen, wohl darin ausgesehen hat.
Manchmal scheint es mir, daß sich die Geschichte in den letzten zwei Jahren noch einmal im Schnelldurchlauf und in abgeschwächter Form wiederholt. Und diese Schnelligkeit macht mich richtig atemlos. Gerade waren wir noch im Deutschland der Dreißiger und Vierziger Jahre des letzten Jahrtausends und schwuppdiwupp sind wir auch schon in der Kubakrise 1962 gelandet. Vielleicht fallen da nicht jedem Parallelen auf, mir aber schon. Damals stationierte die USA Atomraketen in der Türkei, die auf die UdSSR gerichtet waren. Darauf rüstete die UdSSR auf und stationierte ihrerseits Atomraketen auf Kuba, um ein Bedrohungsgleichgewicht herzustellen. Ein Krieg wurde sehr knapp durch Verhandlungen abgewendet. Chruschtschow lenkte ein und erklärte sich bereit, die Raketen zu entfernen. Im Gegenzug erklärten sich die USA bereit, keine Invasion auf Kuba vorzunehmen. Außerdem – was nicht öffentlich werden durfte – erfolgte der Abbau der Raketen in der Türkei. Wenn man sich mit der Vorgeschichte in der Ukraine beschäftigt, findet man da eine ähnliche Dynamik. Vor dem Umsturz der Regierung 2014 wurde dort ein neutraler Kurs gefahren und ein Nato-Beitritt abgelehnt. Die USA mischte für einen Regierungswechsel fleißig mit, indem sie in dieser Zeit mit über 5 Millarden US-Dollar die oppositionellen Kräfte finanzierte. Nach dem Umsturz war damit der Nato das Tor geöffnet, was Putin als Bedrohung empfindet, weshalb er den Nato-Beitritt der Ukraine verhindern möchte. Militärisch erschlossen wird das Gebiet der Ukraine bereits von der Nato. Und Putin droht mit der Stationierung von Atomraketen in Kuba. Vielleicht ist dieses Nato-Ding aber auch gerade der willkommene und dankenswerterweise gelieferte Vorwand für ihn, um unterschwellige Expansions- und Machtinteressen durchzusetzen, wer weiß. Wenn die USA sich mit Finanzierungen in die Politik eines Landes einmischt, geht das meist nicht gut aus. Auch diesmal handelt es sich also um einen Konflikt zwischen den USA und Russland. Aber Deutschland scheint ziemlich willig zu sein, sich als Kriegslakai für die USA mißbrauchen zu lassen, wenn auf "Friedensdemos" neuerdings Krieg, bzw. Maßnahmen, die zu noch mehr Krieg führen, gefordert werden. Fazit: Eine abgehobene Politik läßt verantwortungslos die Muskeln spielen und das kleine Volk muß es wie immer ausbaden, den Terror des Krieges unmittelbar erleiden und wird als "Kriegsmaterial" verheizt. Das gilt sowohl für die Ukrainer, als auch die Russen, die an der Front sterben, und alle, die sich darin einspannen lassen.
Vielleicht konnte ja damals in der Kubakrise genau deshalb eine Einigung erzielt werden, weil die Schrecken der Kriege noch zu präsent und in Erinnerung waren. Das sind sie heute nicht mehr. Könnte sein, daß Menschen erst wieder einen "Denkzettel" brauchen und diese Kreisläufe von Krieg und Frieden immer so sein und bleiben werden in der Geschichte. Ich wünsche mir sehr, daß dies nicht so ist.
Die Erlebnisse bei der Befreiung von Berlin 1945 und danach: Tänzerin zwischen den Welten: Die Erlebnisse meiner Mutter bei der Befreiung von Berlin 1945 und danach (nach ihren Erzählungen schnell aufgezeichnet, um nichts zu vergessen) (weltentanz.blogspot.com)
Die Aufzeichnungen meines Großvaters zu seiner russischen Kriegsgefangenschaft haben sich doch noch angefunden und den Inhalt findet man hier: Tänzerin zwischen den Welten: Tagebuch eines russischen Kriegsgefangenen (weltentanz.blogspot.com)
Und für ganz Hartgesottene noch ein wenig mehr Geschichte: Tänzerin zwischen den Welten: Berlin 1945 (weltentanz.blogspot.com) und Tänzerin zwischen den Welten: Soldbuch-Forschungen (weltentanz.blogspot.com)
Und ein historischer Kinderbrief von 1945: Tänzerin zwischen den Welten: Historischer Brief vom Ende des zweiten Weltkriegs (weltentanz.blogspot.com)
EDIT: Da es auch zum Thema paßt, verlinke ich das Album mit den Fotos von den Ruinen der zerstörten Altstadt von Küstrin, (die heute noch so existieren), aus der damals meine Urgroßeltern zu Fuß geflohen und nach Kriegsende dorthin zurück marschiert sind. Da alles dem Erdboden gleichgemacht war, mußten sie wieder nach Berlin zurücklaufen. So sah die Altstadt vorher aus und meine Urgroßeltern wohnten nahe am Markt in einer Seitenstraße:
Bilder sagen mehr als Worte - und es ist gut, wenn einige Dinge im Zustand der Zerstörung unverändert bleiben - zur Mahnung.
AntwortenLöschenLiebe Grüße!
Finde ich auch! Allerdings holt sich dann die Natur alles zurück.
LöschenDanke, dass Sie uns diese Lektüre ermöglichen. Ähnliche Geschichten habe ich als Kind in meiner eigenen Familie gehört, aber leider wurde nichts aufgeschrieben, außer einer Notiz meiner Tante im Familien-Andachtenbuch, dass ihr Bruder (mein Vater) völlig abgerissen und zerlumpt zu Fuß aus dem Krieg heimgekehrt sei. Mir kamen die Tränen, als ich es las. Denn ich wusste, dass mein Vater aus russischer Gefangenschaft geflüchtet war und sich in nächtlichen Fußmärschen bis in den Westen durchgeschlagen hatte.
AntwortenLöschenJa, ich hätte gerne auch noch mehr von meinen Großvätern erfahren, dem einen, der in Dünkirchen dabei war und dem anderen, von dem es zwar dieses Tagebuch aus der russischen Kriegsgefangenschaft gibt, aber nichts über seine Erlebnisse während der Endkämpfe in Berlin, die er miterlebt haben muß. Leider kann ich sie nicht mehr fragen. Aber die Geschichte der Rückkehr des letzteren aus der Kriegsgefangenschaft ist so eine Geschichte, die in unserer Familie ständig erzählt wurde, da mein Opa ebenfalls so zerlumpt aussah, daß ihn meine Oma damals nicht erkannt hat und für einen Landstreicher hielt.
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